In ihrem Roman erzählt die auf Mauritius geborene Autorin Shenaz Patel von der hierzulande kaum bekannten Zwangsumsiedlung der Chagossianer durch die Briten. Das ist ebenso spannend wie lesenswert.
„Wie ein ganzes Leben innerhalb einer Stunde einpacken?“ fragt sich Raymonde, die Anfang der 1970er Jahre ohne Vorankündigung oder Erklärung von der Insel Diego Garcia im Indischen Ozean vertrieben wird. Sie ist hochschwanger, als sie zusammen mit den anderen Bewohnern von der britisch regierten Insel des Chagos-Archipels auf ein Schiff verfrachtet und nach Mauritius zwangsumgesiedelt wird. Die meisten Chagossianer enden in den Slums der mauritischen Hauptstadt Port Louis. Sie leiden unter Diskriminierung und finden kaum Arbeit, viele verfallen dem Alkohol oder Drogen. Andere sterben an sagren – Traurigkeit.
Die mauritische Autorin Shenaz Patel spürt in ihrem Roman „Die Stille von Chagos“ einigen dieser Schicksale und dem Unrecht nach, das den Menschen dort vor rund 50 Jahren widerfahren ist. Dass sich Patel auf den ersten Seiten des Buches bei denjenigen für ihr Vertrauen bedankt, deren Geschichten ihrer Erzählung zugrunde liegen, macht diese umso bewegender. So erfährt man nicht nur von Raymonde, sondern auch von ihrem Sohn Désiré, der Diego Garcia nur noch aus Erzählungen kennt und sich dennoch entwurzelt fühlt. „Désiré wusste nicht mehr was er war. Mauritisch? Obwohl er immer hier gelebt hatte, besaß er nicht die mauritische Staatsangehörigkeit. Chagossianisch? Diese Inseln, wo er das Licht der Welt hätte erblicken sollen, kannte er nicht.“ Eine weitere Protagonistin ist Charlesia, die 1967 ihren Mann ins Krankenhaus nach Mauritius begleitet und nicht mehr nach Chagos zurück darf – ohne, dass ihr jemand den Grund erklärt. Jahrelang läuft sie immer wieder zum Hafen, starrt auf das Meer und hofft auf ein Schiff, das sie mit zurück nach Hause nehmen wird.
Shenaz Patel beschreibt das vergangene Leben auf Chagos wie ein verlorenes Paradies – die Menschen dort lebten zufrieden, einfach und gemächlich. Viele arbeiteten auf Kokosplantagen, bauten Gemüse an oder züchteten Geflügel, angelten Fische und Schalentiere. Mitten im Ozean waren sie medizinisch versorgt und es gab eine Schule. Ungefähr alle drei Monate kam ein Versorgungsschiff, das Reis und andere Waren brachte. Auf die Frage Désirés, ob das Leben dort wirklich so schön war, wie alle Chagossianer erzählen, antwortet Charlesia:„So ist es in unserer Erinnerung. Und die Erinnerung ist alles, was uns bleibt.“
Dass die Briten den Chagos-Archipel für 50 Jahre an die USA verpachteten, die ihn als Marine- und Luftwaffenstützpunkt nutzten, wurde den vertriebenen Einwohnern nicht mitgeteilt. Die US-Amerikaner hatten die Bedingung gestellt, dass die Inseln „menschenleer“ sein sollten. Die Briten sahen kein Problem darin, die „Tarzans und Freitags unbekannter Herkunft“, die bis dato auf den Inseln wohnten, zu verfrachten, wie aus einer Mitteilung des Kolonialamtes im August 1966 hervorgeht, die die Autorin zwischen zwei Kapiteln zitiert.
Von Chagos aus flogen die US-Amerikaner auch Angriffe auf Afghanistan und den Irak. Shenaz Patel erklärt in ihrem für die deutsche Übersetzung verfassten Nachwort, dass der Pachtvertrag im Januar 2017 um weitere 20 Jahre verlängert wurde, und dass die Chagossianer bis heute darum kämpfen, endlich heimzukehren.
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