Die sogenannten Buschmänner in der namibischen Kalahari werden oft von Touristen bestaunt. Der deutsche Dokumentarfilmer Simon Stadler dreht mit „Ghostland“ den Spieß um: Hier schauen sich vier Ju/‘Hoansi an, wie Europäer leben.
Die Ethnie der Ju/‘Hoansi im Nordosten Namibias zählt zu den ältesten und ursprünglichsten Völkern der Welt. Einst waren sie Nomaden und lebten von der Jagd. Seit die ihnen 1990 per Gesetz verboten wurde, bekommen sie Hilfe vom Staat und führen westlichen Touristen gegen Geld ihre Bräuche vor.
Nun wollten sie selbst gern wissen, wer diese Fremden sind, für die sie jeden Tag tanzen sollen. Wie und wo leben sie? Ihr deutschnamibischer Freund Werner – sein Nachname bleibt ungenannt – ermöglicht ihnen, mit dem Bus ihr Dorf zu verlassen und sich in anderen Teilen Namibias umzuschauen, etwa bei den Himba und in einer Lodge für wohlhabende Touristen. Mit Hilfe einer deutschen Stiftung können vier Mitglieder der Ju/‘Hoansi nach Europa fliegen, in das hochtechnisierte „Land der Geister“, um an einem Bildungsprojekt mitzuwirken. Werner begleitet und lotst die Gruppe zunächst durch Frankfurt am Main, später auch durch Dänemark und Italien.
Mit von der Partie ist sechs Monate lang der Frankfurter Filmemacher und Ethnologe Simon Stadler, der die Erlebnisse der Gruppe mit seiner sehr beweglichen Kamera festhält. In seinem Road-Movie „Ghostland“ verzichtet er völlig auf erklärende Off-Kommentare; die Reisestationen blendet er über Schrifttafeln ein. Zwischen den Reiseimpressionen kehren knappe Statements der Reisenden den traditionellen ethnografischen Blick um: Die Erforschten werden zu Forschern, die Besichtigten besichtigen nun selbst.
Während der Stammesverband in Namibia andere Ethnien und Milieus kennenlernt, die zum Teil noch ihrer eigenen Lebensweise ähneln, sehen sich die vier namibischen Gäste in der Hochhausmetropole Frankfurt mit den Licht- und Schattenseiten der modernen Zivilisation konfrontiert. Sie erkunden die fremde Umgebung mit viel Neugier und kommentieren ihre Eindrücke mit einer guten Prise Humor.
Ihr scheinbar naiver Blick auf für sie Unbekanntes, für uns aber Selbstverständliches – etwa eine U-Bahn – schafft eine aufschlussreiche kulturelle Distanz, die zum Nachdenken anregt. Beispielsweise wenn sich die gelassenen Besucher über die hektischen Weißen wundern, die ständig in Eile zu sein scheinen. Ein älterer Ju/‘Hoansi bemerkt dazu: „Die weißen Leute wollen zu viel und arbeiten zu viel, und es scheint, dass sie nie schlafen.“ Ein jüngerer konstatiert mit Blick auf ein riesiges Einkaufszentrum: „Wenn hier der Strom ausfällt, geht nichts mehr.“
Im Verlauf des sehenswerten Films, der weder die uralte Kultur der Ju/‘Hoansi romantisiert noch die moderne westliche Zivilisation idealisiert, nutzt sich der Verfremdungseffekt des Rollentauschs allerdings etwas ab. Das liegt zum Teil daran, dass die Regie sich eher an Oberflächenphänomenen entlanghangelt, aber nicht genug in die Tiefe geht. So bleibt weitgehend offen, was denn die Ju/‘Hoansi auf ihrem Trip an Erkenntnissen gewonnen haben und inwieweit sich ihr Alltag dadurch verändert hat.
Im Abspann erfährt man immerhin, dass Chau, einer der Frankfurt-Besucher, sich einen E-Mail-Zugang verschafft hat, seine Ehefrau Kxore aber den Lärm der Computer-Tastatur hasst. Und dass die Ju/‘Hoansi-Frau tci!co (sic) sich nach ihrer Rückkehr ein Doppelbett gekauft hat, das aber wider Erwarten unbequem und zu groß für ihre traditionelle Hütte ist. Der Film gewann 2016 den Hessischen Filmpreis für die beste Dokumentation und auf dem South-by-Southwest-Festival im texanischen Austin den Publikumspreis.
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