Englebert Munyambonwa hat 1994 als Tutsi den Völkermord in Ruanda überlebt. Der französische Journalist Jean Hatzfeld verleiht ihm eine Stimme – und was für eine.
Das Leben scheint es gut zu meinen mit dem Bauernsohn Englebert Munyambonwa: Er wächst in einer liebevollen Familie auf, besucht gute Schulen und hat glänzende Zukunftsaussichten – wäre da nicht seine Herkunft. Weil er Tutsi ist, bekommt er keinen Medizin-Studienplatz und auch keinen guten Job im Sozialministerium. Schließlich kostet ihn seine ethnische Zugehörigkeit um ein Haar das Leben. „Ich wusste sehr gut, dass mein Fehler darin bestand, Tutsi zu sein“, stellt er heute nüchtern fest.
Schon lange vor dem Beginn des Genozids in Ruanda im April 1994 prägen ethnische Konflikte immer wieder sein Leben. Protokolliert von dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld, der Munyambonwa bei Recherchen über den Genozid in der ruandischen Stadt Nyamata getroffen und Vertrauen zu ihm aufgebaut hat, erzählt der heute 66 Jahre alte Protagonist seine Geschichte.
Hatzfeld schildert zu Beginn kurz das Leben in der ruandischen Stadt Nyamata nach dem Völkermord und seine Begegnung mit Munyambonwa. Sonst bleibt er konsequent bei der Innensicht seines Protagonisten. Der ist nach den Massakern der Hutu an den Tutsi ein gebrochener Mann, der sich mit Hilfe von Alkohol und regelmäßigen Spaziergängen durch Nyamata am Leben hält. „Im Gehen weiche ich dem Pessimismus aus“ sagt er, „ich trinke, was gerade da ist, ich trickse meine Einsamkeit aus.“
Munyambonwa träumt davon, auf den Feldern seiner Eltern wieder eine Landwirtschaft aufzubauen, vielleicht sogar noch zu heiraten und Kinder zu zeugen – doch davon ist der 66-Jährige weit entfernt. Mit Müh und Not gelingt es ihm, eine Art inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Allein das ist eine Leistung, wie sein Bericht über die Massaker, die er überlebt hat, deutlich macht. Zusammen mit Nachbarn verbarg sich Munyambonwa vom 11. April bis 14. Mai 1994 jeden Morgen in den Sümpfen nahe Nyamatas vor den Anderen, wie er die Hutu nennt.
Sie verbrachten den Tag in Schlammlöchern, nachts versuchten sie, etwas zu essen zu finden und sich notdürftig zu säubern. Der Dreck, der Hunger, die ständige Angst, entdeckt zu werden, die Sorge um die Familie und die Hoffnung, doch zu entkommen: Munyambonwa schildert seine Erlebnisse noch 20 Jahre danach so unmittelbar, als wäre es gestern gewesen. Das Grauen schimmert durch jedes seiner Worte. Als die Soldaten der Ruandisch Patriotischen Front (RPF) schließlich die Gegend befreiten „fanden sie niemanden vor, der ihnen zugejubelt hätte“ – zu schwach waren die Überlebenden, zu Gespenstern geworden. Munyambonwa hatte kein Dach mehr über dem Kopf und keine Familie mehr: Zwei Brüder und die Schwester wurden von Hutu ermordet, die Eltern waren bereits vor dem Genozid an Krankheiten gestorben. Lediglich sein jüngster Bruder konnte ins Ausland fliehen. Munyambonwa ist traumatisiert, im „normalen“ Leben kann er nicht mehr Fuß fassen. Trotzdem lassen seine Schilderungen keinen Hass auf „die Anderen“ spüren. Mit einigen von ihnen verstehe er sich gut, mit anderen spreche er oder trinke auch einmal ein Bier: „Man verhält sich entgegenkommend.“
Jean Hatzfeld liefert das Porträt eines beeindruckenden Mannes, dessen Kraft und zugleich Zerbrochenheit immer wieder spürbar sind. Munyambonwas Erzählung verläuft nicht geradlinig, wiederholt sich an manchen Stellen, widerspricht sich an anderen. Er zieht die Leserin genauso in seinen Bann wie ihm das offenbar mit seinen Nachbarn, Gönnern und Trinkkumpanen gelingt. Ein wichtiges Buch, denn Munyambonwa lässt nicht zu, dass man sich der Auseinandersetzung mit dem, was Menschen anderen Menschen antun können, entzieht.
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