Auch Hasstiraden müssen erlaubt sein

Noch nie gab es so viele Möglichkeiten wie heute, die eigene Meinung zu äußern. Aber auch Todesdrohungen, pädophile Bilder und gewaltverherrlichende Filme verbreiten sich rasend schnell. Zugunsten der Freiheit propagiert der britische Historiker Timothy Garton Ash ein dickeres Fell für Weltbürger.

„In Demokratien, selbst in sehr armen, gibt es keine Hungersnöte.“ Dieser Satz des Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen beschreibt auch das Credo von Timothy Garton Ash, der sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich und publizistisch mit der Rolle von Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit, für ein friedliches Zusammenleben der Menschen beschäftigt und dabei Sen gerne zitiert. Ashs neues, mit fast 700 eng bedruckten Seiten recht umfangreiches Werk über die Redefreiheit ist ein fakten- und gedankenreicher Rundumschlag zu Geschichte und Rolle dieses Bürgerrechts in verschiedenen Gesellschaften und seiner Perspektiven in der vernetzten Welt. Mit Hunderten von Fußnoten, einem ausführlichen Register und etlichen Exkursionen zu verwandten Themen wie der menschlichen Sprachentwicklung oder künstlicher Intelligenz, hat es eindeutig das Zeug zum Standardwerk. Gleichwohl ist Ashs Sprache gut lesbar und oft kurzweilig und humorvoll.

Ausgangspunkt seines Werks ist die zunehmende Verschmelzung der Welt zu dem, was er „Kosmopolis“ nennt: die Welt als Großstadt, in der alle als elektronische Nachbarn leben. Immerhin gebe es mittlerweile weit mehr als drei Milliarden Internetnutzer auf der Welt, Tendenz rapide steigend. Veröffentlicht heute ein Mensch in einem Land einen Aufruf zum Angriff, stirbt deshalb womöglich morgen ein anderer in einem anderen Land. Das wiederum führt zu Gewalt in weiteren Regionen – und in der Folge zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit. „Auf diese verstörende Weise sind wir heute alle Nachbarn“, resümiert Ash, der in diesem Jahr mit dem Aachener Karlspreis geehrt wird.

Trotz oder eigentlich genau wegen dieser Entwicklung braucht es nach Einschätzung des Historikers keineswegs weniger, sondern ausdrücklich mehr Redefreiheit. Nur durch die Auseinandersetzung mit gegnerischen Meinungen, so Ashs feste Grundannahme, kann sich ein tragfähiger Konsens entwickeln, der schließlich Verständigung bringt. Mit seinem 2011 gegründeten Online-Projekt freespeechdebate.com hat der Autor ein Forum für lebendige Debatten über geographische und ideologische Grenzen geschaffen, das diesem Gedanken Rechnung trägt und dessen Ergebnisse an vielen Stellen in sein Buch einfließen.

Mehr Redefreiheit in diesem Sinne wird durch das immer mehr zum Volksmedium werdende Internet  möglich – inklusive täglicher Hasstiraden, Verleumdungen und Gewaltaufrufe. Deshalb begrüßt Ash die Entwicklung zur globalen Stadt trotz all ihrer negativen Auswüchse als demokratische Entwicklung. Denn: „Eine Gesellschaft, die nur auf dem Papier Redefreiheit garantiert, ihren weniger mächtigen Mitgliedern aber keine gleichberechtigte und hörbare Stimme gibt, hat den Weg zur Meinungsfreiheit nur halb zurückgelegt.“ Religiöse Diffamierungen und „Hate Speech“ sind deshalb ebenso wie alle anderen individuellen Überzeugungen im Zeichen der Meinungsfreiheit zu ertragen. Die Grenzen, die Timothy Garton Ash der Meinungsfreiheit setzt, sind damit wesentlich weiter gefasst, als es vielen auch progressiven Debattenteilnehmern lieb sein dürfte.

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