Vor fünf Jahren wurde in Tunesien der langjährige Machthaber Zine El Abidine Ben Ali gestürzt. Die tunesische Regisseurin Leyla Bouzid erzählt, wie die freiheitsliebende Abiturientin Farah den vorangehenden „Sommer der Unzufriedenheit“ erlebt.
Farah ist eine Vorzeigeschülerin, ihr Abitur hat sie mit Bestnoten bestanden. Die Familie aus Tunis erwartet, dass sie Medizin studiert, doch das Herz der eigenwilligen jungen Frau schlägt für die Rockmusik. Als Sängerin einer Band singt sie mit Inbrunst Lieder, deren kritisch-poetische Texte die gesellschaftliche Erstarrung aufs Korn nehmen. Farah will endlich auch ausgehen, das Leben genießen und mit dem Band-Gitarristen und Songwriter Borhène flirten.
Ihre strenge Mutter Hayet lässt ihr einige Freiheiten, macht sich jedoch zunehmend Sorgen über den Lebenswandel Farahs. Dabei ist sie auf sich gestellt, denn ihr Mann Mahmoud arbeitet weit weg in der Provinz. Dorthin wurde er versetzt, weil er nicht in die herrschende Partei eintreten wollte. Farah und ihre Band erregen derweil mit ihren frechen Auftritten den Unwillen der Geheimpolizei. Diese warnt Hayet zunächst und verschleppt dann ihre Tochter. Nach langer erfolgloser Suche bleibt Hayet nichts anderes übrig, als einen alten Studienfreund und Ex-Geliebten um Hilfe zu bitten, der im Innenministerium arbeitet.
In ihrem ersten Langfilm zeichnet Leyla Bouzid, die Tochter des bekannten tunesischen Filmregisseurs Nouri Bouzid, ein prägnantes Stimmungsbild. Die gegängelte Jugend sehnt sich nach Freiheit, sie will sich künstlerisch betätigen, und sei es im Untergrund. Die mit orientalischen Stilelementen versetzte Rockmusik, die der irakische Komponist Khyam Allami zum Film beisteuert, stellt ein wichtiges Ventil dar, um Druck abzulassen.
„Natürlich gab es damals das Verlangen, die Dinge an die Grenze zu treiben“, sagt Bouzid im Rückblick. „Aber die Revolution hat alle überrascht, vor allem die Schnelligkeit, in der sie kam.“ Gemeint sind die Massenproteste, die im Januar 2011 zum Sturz des seit 23 Jahren amtierenden Staatschefs führten. Diese Jasminrevolution gab den Startschuss für den sogenannten Arabischen Frühling in anderen Ländern Arabiens.
Die bedrückende Atmosphäre der Angst und Repression angesichts der Allmacht der Polizei gestaltet die Regisseurin, die an der berühmten Pariser Filmhochschule Fémis Regie studiert hat, in eindringlichen Szenen. Etwa wenn Borhène nach zweitägigem Gewahrsam zurückkommt und ein sympathisch wirkendes Bandmitglied als Polizeispitzel entlarvt oder wenn Farah von zwei Geheimpolizisten mit rüden Methoden verhört und zum Verrat ihrer Freunde gedrängt wird.
Mit präzisem Blick schildert die Filmemacherin die Facetten des Normenkatalogs, dem Frauen in Tunesien gerecht werden sollen. Vor allem ihre nonkonformistische Protagonistin eckt mit ihrer Sprunghaftigkeit und Freiheitsliebe immer wieder an. Umso bedrückender, dass selbst der flippige Borhène einem konservativen Konzept von der gesellschaftlichen Rolle der Frau folgt: Diese soll bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Steht in der ersten Filmhälfte Farahs Streben nach musikalischem Erfolg und sozialer Anerkennung im Vordergrund, so rückt in der zweiten Hälfte das konfliktreiche Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ins Zentrum. Erst als Hayet enthüllt, dass sie in jungen Jahren selbst eine Rebellin war und warum sie sich zu einer überfürsorglichen Mutter gewandelt hat, normalisiert sich die Mutter-Tochter-Beziehung wieder. Am Ende ist es ausgerechnet die Mutter, die die Tochter zum Singen ermutigt. In ihrer ersten Hauptrolle hält die junge Baya Mehaffer souverän mit der erfahrenen Schauspielerin Ghanlia Benali mit, die hier als leidenschaftliches ‚Muttertier‘ glänzt. Der Film wurde auf den Filmfestspielen in Venedig 2015 mit dem Publikumspreis und dem Europäischen Kinopreis ausgezeichnet.
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