Asylexperten stellen Europa für seine Flüchtlingspolitik an den Pranger. Sie machen aber auch Vorschläge für einen humaneren Umgang mit Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten.
Seit dem Erscheinen des Buches Anfang Mai hat sich die Flüchtlingskrise zugespitzt: weitere Schiffsunglücke mit vielen Toten im Mittelmeer, katastrophale Bedingungen für Asylsuchende in Griechenland, auf dem Balkan und am Eurotunnel. Die grundlegende Kritik von Wolfang Grenz, Julian Lehmann und Stefan Keßler hat deshalb an Aktualität nichts eingebüßt, im Gegenteil. Die EU-Staaten sind weit von einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik entfernt. Je nachdem, in welchem Mitgliedsland die Flüchtlinge stranden, erwarten sie ein rassistischer Mob, die Gefahr der Rückschiebung, polizeiliche Repression, Misshandlung durch private Sicherheitskräfte oder überforderte Asylentscheider, denen es an Empathie für ihr Schicksal fehlt.
Die Autoren schildern die Todesgefahren, denen die Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten oder Afghanistan auf ihrem Weg nach Europa ausgesetzt sind. Sie erinnern an die europäische Vertreibungsgeschichte und die Wurzeln des Flüchtlingsrechts, die Auswirkungen der Umbrüche nach dem Kalten Krieg, die Balkankriege und die Schicksale der Binnenflüchtlinge in Kolumbien und im Irak. Politik und Behörden rügen sie für ihre Inaktivität, das „Chaos mit Ansage“ und die mangelhafte medizinische Versorgung in den Unterkünften. Spätestens seit 2013 sei klar gewesen, dass immer mehr Flüchtlinge ihr Leben riskieren würden, um nach Europa zu gelangen.
Sie kritisieren die undurchsichtigen Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten und die Arbeit der in Warschau ansässigen Agentur Frontex für die Kontrolle der EU-Außengrenzen, die sich in der Abwehr von Flüchtlingen erschöpfe. Kritik äußern sie auch am „Verschiebebahnhof Dublin“, der Übereinkunft, nach der für Asylverfahren immer der Staat zuständig ist, in dem ein Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat. In Ungarn, Griechenland und Bulgarien würden Asylsuchende in manchen Fällen inhaftiert oder daran gehindert, einen Antrag zu stellen.
Herzstück der Streitschrift aber sind die Anregungen und Forderungen der Autoren für eine menschenrechtsbezogene, engagierte und zeitgemäße Flüchtlingspolitik in Europa. Sie dürfe sich nicht auf diejenigen beschränken, die bereits in der EU angekommen sind. Langfristig müssten Fluchtursachen bekämpft und kurzfristig die akuten Probleme mit humanitärer Hilfe gelindert werden. Zehn Millionen syrische Flüchtlinge halten sich außerhalb Europas auf, allein im Libanon lebten mehr syrische Flüchtlingskinder als einheimische Mädchen und Jungen, berichten die Experten. Sie benötigen dringend Schulbildung.
Auch in den Transitländern außerhalb der EU müssten die Asylsysteme dringend verbessert und menschenrechtlichen Standards angepasst werden. Die legale Einreise sollte durch humanitäre Visa und Kontingente für eine dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen verbessert werden. Zudem sollte die EU sich vom Dublin-System verabschieden und Flüchtlingen nach einigen Wochen Freizügigkeit zugestehen. Die Kompetenzen des in Malta ansässigen Asylunterstützungsbüros EASO sollten ausgeweitet werden, etwa bei der Kontrolle der Mittel, die an die südlichen und östlichen EU-Staaten zur Hebung der Standards in Asylverfahren und bei der Unterbringung ausgezahlt werden. Ferner schlagen die Autoren vor, dass die EU eine Berichtspflicht der Mitgliedsländer zur Einhaltung des Flüchtlingsrechts einführt. Man würde sich wünschen, dass sich die EU solche Vorschläge zu Eigen macht – oder zumindest ernsthaft darüber diskutiert.
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