Die Rückkehr der Kaufleute

Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen
Kapitalismus
C.H. Beck, München 2014, 528 Seiten, 29,95 Euro

Die Idee ist bestechend und die Ausführung gelungen: Der in Harvard lehrende Historiker Sven Beckert erzählt anhand der Baumwollindustrie die Geschichte des globalen Kapitalismus. Das ist lehrreicher als mancher Theorie-Band.  

Beckert beginnt seine Geschichte der Baumwolle nicht mit der industriellen Revolution in England, sondern mit den mittelalterlichen Handelsnetzwerken. Seit der Kolonisierung Amerikas im 16. Jahrhundert organisierten europäische Händler im Verein mit der Militärmacht ihrer Staaten die Netzwerke des Welthandels, die zuvor multipolar gewesen waren, neu: Sie kauften Textilien in Indien, wo Baumwolle angebaut und verarbeitet wurde, importierten sie nach Afrika und bezahlten damit die Sklaven, die sie auf die Plantagen der „neuen Welt“ brachten, wo die für den Export von Zucker nach Europa schufteten. Diese  Netzwerke der Händler hätten eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich der Industriekapitalismus entwickeln konnte, schreibt Beckert.

Im Laufe der Zeit wurde auch auf den Sklavenplantagen in Amerika Baumwolle angebaut. Beckert macht klar, dass die Sklavenwirtschaft kein Überbleibsel aus dem Mittelalter war, sondern eine Form von Arbeit, die den frühen Industriekapitalismus zum Laufen brachte. Nur wenig besser als den Sklaven ging es den ersten sogenannten „freien Lohnarbeitern“, die in Europa in die ersten mechanisierten Fabriken getrieben wurden: in der Mehrzahl Kinder und Frauen. „Während in den bürgerlichen Familien dieser Zeit die Erfindung der ‚Kindheit‘ zelebriert wurde, war die Grundlage für den Wohlstand dieser Familien die Ausbeutung von Kindern in den umliegenden Fabriken“, schreibt Beckert über die elsässische Baumwollindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Lohnarbeiter mussten mit Gesetzen zur Arbeit gezwungen und ihres bisherigen Lebensstils beraubt werden. Beckert meint lakonisch, dass Staaten nicht in Märkte eingegriffen hätten, sondern oft dafür sorgten, dass sie erst entstehen. Das drastischste Beispiel dafür war wohl die „größte Welle der De-Industrialisierung in der Geschichte“: Die englische Kolonialregierung erschwerte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Zölle und Abgaben die Baumwollverarbeitung in Indien. Billige Textilimporte aus England zwangen indische Weber zusätzlich, ihr Geschäft aufzugeben und in den Baumwollanbau zu wechseln.

Es war also nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das dem Kapitalismus zum Sieg verhalf, sondern staatliche Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik. Die Folge waren gigantische Hungersnöte unter indischen Bauern, weil die Produktion für den Export die Subsistenzwirtschaft verdrängte: Fiel der Baumwollpreis, der längst ein Weltmarktpreis geworden war, wurden Nahrungsmittel unerschwinglich. „Die Hungersnöte entstanden nicht durch Nahrungsmangel, sondern weil die ärmsten Landarbeiter sich die dringend gebrauchten Lebensmittel nicht mehr leisten konnten.“

Im 20. Jahrhundert übernahmen Schwellenländer wie China und Indien die Erfolgskombination aus starkem Staat und Industriekapitalismus. Sie holten die globale Baumwollverarbeitung in den Süden zurück. Und so kam es ab den 1970er Jahren zur Rückkehr der Kaufleute – dieses Mal in Gestalt der westlichen Markenfirmen und großen Warenhausketten. Sie dominieren heute die globale Textilindustrie und machen gute Geschäfte damit. Laut Beckert bewirkt der Kapitalismus eine „permanente Revolution“. Die sei nur möglich, „wenn es Orte und Menschen gibt, deren Dasein sich umwälzen lässt“. Dass für viele Menschen diese Umwälzung Zwang und Tod bedeutete, belegt Beckerts grandiose Geschichte des Kapitalismus mit vielen Beispielen.

Christoph Fleischmann




 

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!