Gerhard Drekonja-Kornat,Ursula Prutsch (Hg.)
Brasilien 2014: Aufbruch und Aufruhr
Lit Verlag, Berlin, 2014, 152 Seiten, 29,90 EUR
Die beiden Historiker Gerhard Drekonja-Kornat und Ursula Prutsch räumen mit den gängigen Brasilien-Klischees auf. Sie liefern eine Fülle von Informationen – und ein Lesevergnügen.
Obwohl allein die schiere Größe Brasiliens ahnen lässt, dass es eine ungeheure Vielfalt an Landschaften, Kulturen und Klimazonen beherbergt, halten sich zahlreiche Klischees hartnäckig. Man denkt an knackige Schönheiten in knappen Bikinis am Strand von Ipanema, bedrohte Indios in Amazonien und begnadete Fußballer, die mit dem Ball Samba tanzen. Diese Stereotypen wollen die Historiker Ursula Prutsch und Gerhard Drekonja-Kornat mit diesem schmalen Buch zertrümmern. Sie lenken den Blick auf brisante gesellschaftliche und soziale Fragen.
Am Anfang steht die Eröffnungsrede des Literaten Luiz Ruffato zur Frankfurter Buchmesse 2013. Unter dem Titel „Rassendemokratie ist ein Mythos“ malt er ein düsteres Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Man müsse sich nur in den Haftanstalten umsehen. „Arm, schwarz und schlecht ausgebildet“, zwischen 18 und 34 Jahre alt seien die meisten der 550.000 Gefängnisinsassen des Landes. Unwissen werde als „Herrschaftsinstrument perpetuiert“, auch wenn sich seit der ersten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio da Silva viel getan habe. Dass viele Brasilianer noch nie einen Indianer gesehen haben, dürfte auch daran liegen, dass die Ureinwohner, von denen die Portugiesen im Jahr 1500 noch vier Millionen vorfanden, bis auf 900.000 ausgerottet worden sind.
Der Traum einer multirassischen und durch gemeinsame Symbole und Zuneigung verbundenen Gesellschaft werde nirgends so deutlich Lügen gestraft wie im südlichen Mato Grosso, urteilt der Ethnologe Georg Grünberg, der sich seit 50 Jahren mit Brasiliens Indianern beschäftigt. Deren Vernichtung war bis vor hundert Jahren offizielle Politik. Und noch heute wird ihr Lebensraum von den Profitinteressen der Großgrundbesitzer bedroht. Wenn sie in die Städte kommen und ihre Kultur verlieren, gelten sie als unerwünschte Bettler und Landstreicher. Ihre Anliegen stießen bei der urbanen Bevölkerung Brasiliens bis vor kurzem auf völliges Unverständnis. Doch auch die fortschrittlichen Regierungen der vergangenen Jahre setzen auf das vom Militärregime der 1970er Jahre entwickelte Entwicklungskonzept, das mit der Zerstörung von Urwald und dem Lebensraum der Indigenen Hand in Hand geht.
Mit der Regierung der Arbeiterpartei (PT) unter Luiz Inácio da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff beschäftigen sich weitere Autoren. Der Ökonom Andreas Novy stuft sie als sozialdemokratisch ein und bescheinigt ihr nicht nur, die Anzahl der Armen deutlich reduziert, sondern auch die Lücke zwischen Arm und Reich verringert zu haben. Die anfangs hohen Sympathiewerte der Linken bei der oberen Mittelschicht schwänden dadurch. Liebgewonnene Privilegien seien bedroht, wenn plötzlich auch Angehörige der unteren Schichten die Chance hätten, durch höhere Bildung zu gut bezahlten Posten und Einfluss zu kommen.
Das Buch geht auf alle Fragen ein, die in Brasilien auf der Tagesordnung stehen oder stehen sollten, und entlässt den Leser deutlich besser informiert und mit der Lust, mehr über dieses noch immer geheimnisvolle Land zu erfahren. Die kurzen Kapitel sind mehrheitlich gut und flüssig geschrieben und machen aus der Information ein Lesevergnügen.
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