Daniel Everett
Das glücklichste Volk.
Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas
DVA, München 2010,
414 Seiten 24,95 Euro
Insgesamt sieben Jahre verbrachte der US-Amerikaner Daniel Everett bei den Pirahã, einem knapp 400 Seelen zählenden Volk, das abgeschieden von jeder Zivilisation an einem Amazonas-Nebenfl uss lebt. Im Auftrag eines evangelikalen Instituts für Sprachforschung und Mission lernte er ihre Sprache, um eine Übersetzung der Bibel anzufertigen und die Indianer zum christlichen Glauben zu bekehren. In seinem Buch beschreibt er, warum ihm das nicht gelungen ist und wie diese Erfahrung sein eigenes Leben grundlegend verändert hat.
Ausgerechnet ein Gespräch über Salat macht Everett endgültig klar, dass es ihm nie gelingen wird, die Bibel in die Sprache der Pirahã zu übersetzen. Die Pirahã essen keinen Salat, er ist nicht Teil ihrer (Ess-) Kultur. Indem Everett Salat isst, stellt er sich außerhalb der Kultur – und damit aus Sicht der Amazonas-Indianer auch außerhalb der Möglichkeit, von ihrer Sprache vernünftig Gebrauch zu machen. Die Erfahrung bestätigte Everett in seiner Vermutung, dass die Pirahã-Sprache einschließlich ihrer Grammatik maßgeblich von ihrer Kultur und von ihren alltäglichen Erfahrungen bestimmt ist. Für einen Laien klingt das nach einer Selbstverständlichkeit. In der Sprachwissenschaft, der Linguistik, ist es alles andere als das. Denn laut einem der bekanntesten Linguisten, Noam Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology, folgen alle Sprachen gemeinsamen grammatischen Regeln, die allen Menschen angeboren sind. Everett kommt in seinen Forschungen bei den Pirahã zu dem Ergebnis, dass diese Theorie der Universalgrammatik nicht stimmt.
Das Buch ist zum einen lehrreich, weil man eine ganze Menge über das Funktionieren von Sprachen erfährt, ohne dass sich Everett in für Laien verwirrende linguistische Details verirrt. Das Besondere an der Pirahã-Sprache ist, dass sie nur unmittelbar Erlebtes ausdrückt. Alles Abstrakte sowie Dinge, die in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen, interessieren die Pirahã nicht. Das hat beispielsweise zur Folge, dass sie nur sehr wenige Zahlwörter kennen und dass sie keine Relativsätze bilden können, wozu nach der Theorie der Universalgrammatik eigentlich jeder Mensch in der Lage sein muss.
Zum anderen ist das Buch äußerst unterhaltsam, weil es die sprachwissenschaftliche Abhandlung in einen regelrechten Abenteuerroman aus dem Amazonas-Regenwald verpackt – mit allem, was dazu gehört: Gleich zu Beginn lesen wir, wie Everett sich mit seiner Familie verzweifelt durch den Urwald schlägt, um seine Frau und seine Tochter zu retten, die beide schwer an Malaria erkrankt sind. Wir begegnen Schlangen und anderen unangenehmen Kleintieren in Everetts Arbeitszimmer sowie einer Riesenanakonda, die sich meterhoch aus dem Fluss erhebt. Der Missionar muss einen Mordanschlag der Pirahã auf sich und seine Familie abwenden und sich mit allerlei Ganoven rumschlagen, die im Amazonasgebiet ihr Unwesen treiben.
Das Prinzip des „unmittelbaren Erlebens“ der Pirahã-Kultur schließlich verhindert, dass Everett sein Vorhaben erfüllen kann, die Bibel zu übersetzen und die Indianer zum Christentum zu bekehren. Ob er Jesus denn persönlich kenne, fragen ihn die Pirahã irgendwann. Als er das verneinen muss, hat sich die Sache für sie erledigt: „Wir wollen ihn nicht.“ Everett wirft das völlig aus der Bahn: Nicht die Pirahã, sondern er wird am Ende bekehrt. Er wendet sich vom Glauben an Gott ab und stellt außerdem den Wahrheitsbegriff in Frage, dem er als Wissenschaftler und Missionar sein Leben lang gefolgt ist.
An dieser Stelle nimmt das Buch eine irritierende Wende; die Person des Autors erscheint plötzlich in einem ganz anderen Licht. 400 Seiten lang hatte man den Eindruck, der Mann stehe mit beiden Füßen fest auf dem Boden, wisse, wohin er gehört und was er will, und arbeite engagiert, aber immer mit der gebotenen Distanz zu seinem Forschungsobjekt. Am Ende seines Buches aber wirkt Everett zutiefst verunsichert. Seine Überlegungen am Schluss des letzten Kapitels, ob wir uns die Pirahã nicht zum Vorbild nehmen und des Lebens freuen sollten, statt „das Universum mit Besorgnis und Bedenken zu betrachten und zu glauben, wir könnten alles verstehen“, klingen nach reichlich naiver Indianerromantik. Und sie erwecken den Eindruck, als sei da einer auf der Suche nach einer neuen Religion, nachdem die alte ihm keinen Halt mehr gibt.
Tillmann Elliesen
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