Harte Spielregeln

Die Produktion von Lebensmitteln unterliegt strengen Umwelt- und Hygieneauflagen. Das schützt die Gesundheit der Verbraucher. Doch festgelegt werden diese globalen Standards von Industrieländern und Konzernen – zum Schaden mancher Bauern im globalen Süden.

Standards verbinden anspruchsvolle Verbraucher und Bürgerinnen der Industriestaaten meist mit etwas Gutem: Sie sollen bewirken, dass Ethik in die Wirtschaft Eingang findet, zum Beispiel keine Kinderarbeit, kein Gift in der Nahrung, Tierschutz und Umweltschutz. Doch alle Standards sind auch Handelsbarrieren. Denn sie bedeuten für die Erzeuger strikte Auflagen, die kostenträchtig sind und nicht von allen gleichermaßen erfüllt werden können. So können ganze Länder, einzelne Erzeugergruppen oder bestimmte Waren im Handel benachteiligt werden. Dieses Risiko ist gewachsen – nicht zuletzt im Lebensmittelhandel mit privaten, von Unternehmen gesetzten Standards.

Es wird geschätzt, dass die Hälfte des Welthandels und zwei Fünftel der Exporte der ärmsten Länder im Prinzip Hygiene- und Umweltauflagen unterliegen. Besonders der internationale Handel mit Nahrungsmitteln ist betroffen von Standards verschiedenster Art, die vor allem die Lebensmittelsicherheit und Qualität wahren sollen. Seit den großen globalen Tierseuchen – Rinderwahnsinn, Vogelgrippe – gelten zur Vorbeugung hohe Anforderungen für die Eigenschaften der Produkte und für die Herstellungsprozesse; nicht nur national, sondern auch international.

Ein Beispiel sind die sogenannten „Hazard Analysis and Critical Control Points“ (HACCP). Danach sollen Betriebe analysieren, an welchen kritischen Punkten in ihren Produktionsprozessen Gesundheitsgefahren für Konsumenten entstehen können, und dafür gezielt Grenzwerte und ständige Kontrollen einführen. Das Konzept wurde in den 1960er Jahren in den USA entwickelt und ist dort verbindlich für Fleisch- und Saftproduzenten. 1996 wurde es in die internationalen Grundsätze der Lebensmittelhygiene übernommen, die eine Kommission der UN-Ernährungsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO beschließt.

Autor

Rudolf Buntzel

ist Experte für Ernährung und Landwirtschaft und hat viele Jahre beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) gearbeitet.

Seit Neuestem beziehen sich private Standards auf ganze Betriebsabläufe. Sie sind die einschneidendsten Vorgaben und unterliegen keinen Regeln der Welthandelsorganisation – sie können nicht als unfaire Handelshemmnisse angefochten werden. Ausgelöst von der Gesetzgebung der Europäischen Union (EU), die den Einzelhandel haftbar macht für Lebensmittelskandale, schlossen sich seit Mitte der 1990er Jahre die großen Supermarkt- und Discounterketten in Europa zusammen, um einheitliche Prozesse bei den Zulieferfirmen zu erreichen. Weil der Lebensmitteleinzelhandel so konzentriert ist und die Konzerne inzwischen weltweit operieren, konnten sich ihre Standards auf dem globalen Markt durchsetzen. Die Androhung, dass ein Verstoß zum Entzug von Aufträgen führt, ist erheblich wirksamer als staatliche Durchsetzungsmechanismen. Warum setzen große Firmen solche globalen Standards? Die Reputation des Unternehmens ist im Lebensmittelhandel oft ein marktentscheidender Faktor. Daher gilt Nulltoleranz gegenüber möglichen Sicherheitslücken. Werden „unsichere“ Lebensmittel gefunden, müssen sie sofort und vollständig vom Markt genommen werden. Und für die Haftung ist in Zeiten der Globalisierung wichtig, dass sich jede Firma bei einem Skandal gegenüber den anderen in der Lieferkette abgrenzen kann. Dafür sind einheitliche Regeln nötig, aber vor allem ein System der Rückverfolgbarkeit und des Nachweises, dass man seiner Verantwortung nachgekommen ist und von den Zulieferern eine „gute Praxis“ verlangt hat.

Darüber hinaus dienen internationale Standards den Unternehmen dazu, in den immer komplizierter werden Wertschöpfungsketten die globale Beschaffungspolitik zu steuern und zu kontrollieren. Die alten, chaotischen Lebensmittelgroßmärkte genügen weder ihren Bedürfnissen nach fristgenauen und zuverlässigen Lieferungen noch gewährleisten sie ausreichend homogene und standardisierte Ware. Freie Marktbeziehungen wurden ersetzt durch eine integrierte Produktion mit Vertragsanbau und klaren Vorgaben. In diesem System sind viele kleine Lieferanten hinderlich, es sei denn, sie schließen sich zu Gruppen zusammen. Oft war dies aber nur ein Übergang, bis große Betriebe und eigene Plantagen die Belieferung der Supermarktketten übernahmen.

Standards kosten die Supermärkte nichts: Die Zulieferfirmen müssen die Kosten der Einhaltung tragen und geben sie weitgehend weiter an die Landwirte. Zulieferer übernehmen auch die Schulung und Beratung. Lieferanten, die den Standard erfüllen wollen, müssen von unabhängigen Dritten „zertifiziert“ werden – nämlich von Firmen, die von den Betreibern der Standards akkreditiert und in der Regel in Europa angesiedelt sind.

Der am weitesten verbreitete Lebensmittelstandard ist Global-GAP. Er geht zurück auf das „Protokoll europäischer Einzelhändler für gute landwirtschaftliche Praxis“ (EurepGAP), das eine Gruppe von elf britischen und holländischen Einzelhandelskonzernen 1996 geschaffen hat. Er heißt seit 2006 Global-GAP und erlaubt heute, dass Länder, deren Lebensmittelkontrolle weit fortgeschritten ist, den Standard an nationale Verhältnisse anpassen. So haben Indien, Malaysia, Kenia und Mexiko inzwischen ihre eigenen nationalen  Standards, die von Global-GAP allerdings als „gleichwertig“ anerkannt werden mussten.

Heute folgen 49 Supermarktketten und 154 Weiterverarbeiter sowie 110 assoziierte Mitglieder in hundert Ländern dem Global-GAP. Hundert akkreditierte Zertifizierer kontrollieren weltweit seine Einhaltung. 2011 waren mehr als 112.000 Erzeuger oder Erzeugergruppen unter Global-GAP zertifiziert. Für kleine Betriebe wird inzwischen auch eine Gruppenzertifizierung anerkannt.

Die „gute fachliche Praxis“ bedeutet für Bauern und Bäuerinnen, dass sie Vorschriften und Nachweispflichten bezüglich 14 sogenannter Kontrollpunkte beachten und das schriftlich dokumentieren müssen. Um die Auflagen zu erfüllen, müssen Abläufe im Betrieb neu gestaltet, Personal geschult und zusätzliche Ausrüstung für die Qualitätskontrolle angeschafft werden. Man muss Gebühren für die Kontrolleure zahlen, ein umfangreiches Dokumentationswesen betreiben, Betriebsprüfungen über sich ergehen lassen und die Zertifizierung bezahlen. Auch das benachteiligt kleine Betriebe.

Die Standards führen zu einem Ausleseprozess unter den Landwirten

Neben den Standards der Unternehmen gibt es freiwillige private Standards. Sie sollen Premiumprodukte schaffen, für die der Verbraucher mehr zu zahlen bereit ist. Beispiele sind die international verbreiteten Siegel für fairen Handel (FLO, Transfair) sowie Zertifikate für biologischen Anbau (IFOAM) und nachhaltig gefangenen Fisch (MSC). Die so weitreichende Abdeckung des Welthandels mit technischen Standards hat unter den Entwicklungsländern große Besorgnis ausgelöst. Die Standardsetzer sind eindeutig die Industriestaaten, die Standardnehmer die Entwicklungsländer. Sie fragen sich: Nehmen die Standards Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der armen Länder? Zwingen sie eine bestimmte Agrarpolitik auf? Werden Schutzanliegen der Verbraucher und Bürger des Nordens missbraucht für protektionistische Zwecke? Die Angst davor überwog bis vor etwa zehn Jahren. Inzwischen mehren sich die Stimmen, dass internationale Lebensmittelstandards auch eine Chance für arme Länder darstellen können.

Denn sie geben ihnen Orientierung über die Konsumtrends im Norden, ermöglichen Zugang zu Märkten für hochwertige Agrarprodukte – zum Beispiel Bohnen aus Kenia und Ägypten – und werden sich langfristig auf den Binnenmärkten vieler Entwicklungsländer  durchsetzen. In Ländern mit mittlerem Einkommen fordert die wachsende Mittelschicht Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Lebensmitteln, die denen in den Industriestaaten entsprechen. Zudem macht das Vordringen der großen Supermärkte in Asien, Lateinamerika und einigen Ländern des südlichen und nördlichen Afrika globale Standards mehr und mehr auch zu den Standards auf den Binnenmärkten dort.

Feldstudien aus Ägypten, der Türkei, China, Thailand, Indien, Südafrika, Kenia und Senegal zeigen, dass die Kosten der Anpassung an die internationalen Supermarktstandards für die einheimische Landwirtschaft umso geringer sind, je stärker sich die Agrarpolitik des jeweiligen Landes auf Qualitäts- und Sicherheitsstandards eingestellt hat. Dann existieren wissenschaftliche Labore für die Überprüfung auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln, die Kontrollinfrastruktur funktioniert, das Qualitätsbewusstsein wird gefördert und die Schulung und Beratung für die Einhaltung von Standards wird in die Lehrpläne der Agrarfakultäten, Ernährungswissenschaften und der landwirtschaftlichen Berufsschulen integriert. Unter günstigen Bedingungen betragen  die Anpassungskosten für die landwirtschaftlichen Erzeugerinnen und Erzeuger unter drei Prozent der laufenden Gesamtkosten. Wenn sie Mitglieder der Standardprogramme werden wollen, müssen die Betriebe allerdings erheblich investieren.

Alle Fallstudien weisen darauf hin, dass die Standards zu einem Ausleseprozess unter den Landwirten führen. Besser ausgebildete, innovationsfreudige (und oft jüngere) Betriebsleiter, die sich leichter tun, in enge Vertragsbeziehungen einzutreten und sich in Erzeugergruppen zusammenzuschließen, übernehmen die Marktführerschaft. Weitere günstige Startbedingungen sind Zugang zu Krediten, größere Flächen, größere Tierbestände (bei Standards für Milch zum Beispiel), gesicherte Eigentumsverhältnisse, Bewässerungsmöglichkeiten und der Anschluss an moderne Infrastruktur und Kommunikationsverbindungen.

So hat sich die Zahl der Betriebe, die in Kenia Obst und Gemüse für den Export anbauten, auf ein Drittel reduziert, als 2006/07 striktere Standards verpflichtend eingeführt wurden. In Uganda hat sich  die Zahl der kleinen Gemüsebauern, die nach Europa exportierten, 2006 um 40 Prozent verringert und ihr Exportvolumen ist in einem Jahr von 6000 auf 4700 Tonnen gesunken. Das hatte eine Reihe von Gründen, doch die Einführung strikter Standards, besonders durch EurepGAP, war nach Ansicht der Forscher mit ausschlaggebend für diese Entwicklung.

Denn mit der umfassenden Dokumentation sämtlicher Betriebsabläufe, die von allen Zertifizierungsprogrammen und zunehmend auch von staatlichen Sicherheitsauflagen verlangt wird, ist ein hoher Aufwand verbunden. Das hat sich als große Hürde der Armutsbekämpfung erwiesen. Zwar bringt den Kleinbauern eine mögliche Gruppenzertifizierung eine Erleichterung. Aber sie verlangt zugleich statt der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit und dokumentarischen Ordnung die Fähigkeit, sich als Gruppe effektiv zu organisieren.

Die traditionellen Vermarktungskanäle müssen weiterentwickelt werden

Auch vertraglich festgelegte Lieferverpflichtungen sind problematisch für Landwirte, die unter unsicheren Bedingungen wirtschaften müssen, etwa unter stark schwankenden Witterungsverhältnissen. Das gilt selbst dann, wenn der Aufkäufer sie rechtzeitig mit Betriebsmitteln wie Saatgut und Dünger versorgt. Die neuen Märkte, deren Wesensmerkmal Standards sind, schließen marginale Bauernbetriebe, Analphabeten, Arme, Subsistenzbauern, sowie die Landwirtschaft in abgelegenen und semiariden Gebieten aus. Durch die zusätzlichen Arbeitsplätze in den beteiligten Betrieben wird das kaum ausgeglichen.

Für die von modernen, lukrativen und standardisierten Märkten ausgeschlossenen Bauern und Bäuerinnen sind informelle Märkte die einzige Überlebensmöglichkeit. Sie bestehen in den meisten Entwicklungsländern weiter, auch wenn die Restrukturierung der Märkte schon im vollen Gange ist. Doch das Nebeneinander ist nicht statisch. Wer informelle Märkte beliefert, kommt unter doppelten Druck: Zum einen expandieren die modernen Märkte teilweise auf Kosten der informellen und schnappen ihnen die lukrativsten Nachfrager weg: die Supermärkte, bessere Restaurants, Exportmärkte, weiterverarbeitende Betriebe.

Zum anderen werden auf den informellen Märkte die Reste „entsorgt“, die von den modernen Märkten nicht abgenommen werden, entweder weil dafür zu viel produziert wurde oder weil ein Teil der Ernte die hohen Standards nicht erfüllt. Das drückt noch einmal zusätzlich den Preis auf den „Restmärkten“. Und schließlich fördern die meisten Regierungen die Modernisierung der Märkte und machen auch den informellen Märkten Auflagen.

Der Trend zur Standardsetzung ist unausweichlich und nicht mehr zurückzuschrauben. Es kommt darauf an, dass die Entwicklungsländer mehr Einfluss darauf gewinnen und verhindern, dass einzelne Anliegen nur in einer einzigen Art und Weise erfüllt werden dürfen. Die Äquivalenzverfahren mit nationalen Standardprogrammen bei Global-GAP zeigen einen Weg auf. Standards müssen an die besonderen Verhältnisse der Entwicklungsländer und dort der Kleinbauern angepasst werden.

Zudem müssen die traditionellen Vermarktungskanäle weiterentwickelt werden, um die Binnenmärkte nicht kampflos der Supermarktrevolution zu überlassen. Entscheidend ist die Schulung der Kleinunternehmer im Nahrungsmittelgewerbe und in der Landwirtschaft. Und schließlich muss es eine globale staatliche Vorgabe als „Leitplanke“ für private Standard- und Zertifizierungsprogramme geben, die Diskriminierung, Willkür und Eurozentrismus ausschaltet.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2013: Neue Geber: Konkurrenz stört das Geschäft
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