Autor
Axel Reimann
ist freier Journalist in Hamburg und beschäftigt sich unter anderem mit wirtschaftsethischen und weltanschaulichen Themen.Im ägyptischen Alexandria wurde die 21-jährige Mariam Fakri von einer mit Schrauben und Kugellagerteilen gefüllten Autobombe zerfetzt, als sie aus dem Gottesdienst kam. Mit ihr starben ihre Schwester, ihre Tante, ihre Mutter und 19 weitere Angehörige der koptischen Kirche. Noch mehr Beispiele? Aus dem Irak vielleicht, wo die Christen inzwischen nur noch eine Wahl sehen, auf die ständige Bedrohung zu reagieren: sterben oder fliehen. Hunderttausende haben das Land schon verlassen. Oder aus Afghanistan, wo die Bundeswehr zwar die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt, aber Menschen zum Tode verurteilt werden können, wenn sie es wagen, Christen zu werden. Oder aus Saudi-Arabien, wo ein Gespräch über den eigenen (nicht muslimischen) Glauben schon schwerste Strafen mit sich bringen kann. Und wie ist das Leben eigentlich als Christ in Nordkorea? Oder in China?
Christenverfolgung: Ein Wort, das wir vor einigen Jahrzehnten nur mit Sandalenfilmen über das Alte Rom verbanden, gehört wieder zum aktuellen Nachrichten-Vokabular. Und zum Vokabular der Politik. „Wir haben erschreckende Zahlen darüber, wie Christen verfolgt werden, in wie vielen Ländern", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Es ist ganz objektiv die Religionsgruppe, die am stärksten verfolgt wird." In einem Antrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP im vergangenen Jahr wird von 200 Millionen Menschen ausgegangen - das Christentum sei damit „die größte verfolgte religiöse Minderheit".
200 Millionen - diese Zahl taucht immer wieder auf - in Kommentaren und Leitartikeln und in den Hintergrundinformationen von Hilfswerken, die sich für die Sache der verfolgten Christen einsetzen. Der Mann, von dem sie ursprünglich stammt, gibt gelegentlich deutlich höhere Zahlen an: Paul Marshall, einer der einflussreichsten Experten in Sachen Christenverfolgung und Mitglied des Hudson Instituts in Washington, sagt inzwischen, dass 600 oder 700 Millionen Christen weltweit diskriminiert oder verfolgt würden. Wie er darauf kommt, ist sein Geheimnis. Open Doors, die überkonfessionelle Hilfsorganisation, die sich für benachteiligte und verfolgte Christen einsetzt, hält 100 Millionen für die richtige Zahl.
Niemand weiß genau, ob es immer um Religion geht, wenn Christen Verfolgung erleiden
700 Millionen? 200 Millionen? Oder doch nur 100 Millionen? Im Zusammenhang mit dem Leid anderer Menschen über Zahlen zu reden, über Definitionen und Quellen zu diskutieren, noch dazu aus der sicheren Distanz von jemandem, der weit weg ist von Bedrohung und Verfolgung - das birgt die Gefahr, falsch verstanden zu werden. Und zwar so: Das ist ja doch alles nicht so schlimm. Dabei ist eines ganz unzweifelhaft: Auf dieser Welt werden Menschen ermordet, verletzt, bedroht, verfolgt, diskriminiert, aus ihrer Heimat vertrieben oder unter Druck gesetzt, weil sie einen anderen Glauben haben als die Regierenden, die Nachbarn, der Mob oder der Terrorist, der sie zu seinen Feinden erklärt hat.
Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ist in vielen Ländern äußerst unbeliebt. Dass jeder Mensch Anspruch hat auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, dieses Menschenrecht fällt regelmäßig der Bigotterie zum Opfer - der Angst, dass der eigene Gott oder die eigene Weltanschauung nicht stark genug ist, um die Freiheit des Andersgläubigen auszuhalten. Deshalb ist es notwendig, dass Politiker, Medien und Hilfsorganisationen auf die Verletzung dieses Menschenrechtes aufmerksam machen.
Doch niemand weiß genau, wie vielen Menschen dieses Recht vorenthalten wird und wie viele davon Christen sind. Auch nicht, ob es immer um Religion geht, wenn Christen Verfolgung erleiden. Die Hilfsorganisation Open Doors, die den Weltverfolgungsindex herausgibt, hat vor einiger Zeit ihre Definition so verändert, dass die Zahl der verfolgten Christen von 200 auf 100 Millionen sank. „Vor allem haben wir dabei sogenannte Namenschristen aus unserer Erhebung herausgenommen", erklärt Open Doors - also jene, die „in islamisch geprägten Ländern aufgrund ihrer traditionellen Abstammung in der Statistik als ‚Christen‘geführt werden, sich aber nicht als Christen im Sinne einer persönlichen Glaubensbeziehung zu Christus verstehen und ihren Glauben bewusst praktizieren und leben."
Wie muss man sich eine solche um „Namenschristen" bereinigte Erhebung vorstellen? Koptische Christen ja, maronitische Christen nein, syrisch-orthodox vielleicht? Oder wurden die 100 Millionen aus der Statistik geworfenen Christen nach ihrem Glaubensleben befragt? Die Hilfsorganisation gesteht ihnen zumindest zu, dass sie nicht in der freiesten aller Welten leben: „Auch wenn diese Christen sich mit der mangelnden Religionsfreiheit in ihren Ländern abgefunden haben und wir sie daher aus unserer Einschätzung der Zahl verfolgter Christen herausnehmen, ändert dies nichts daran, dass auch sie keine Religionsfreiheit genießen."
Im Verhältnis zu ihrer Größe ist die Religionsgemeinschaft der Bahai ungleich stärkerer Verfolgung ausgesetzt
Die anderen Verfolgtenzahlen sind ebenfalls nicht sonderlich vertrauenerweckend. Niemand weiß wirklich, wie viele Christen es in China gibt - die Schätzungen reichen von 40 bis 130 Millionen. Keiner hat einen Überblick über die Zahl der Christen in Nordkorea, das seit Jahren die Liste der Verfolgerstaaten anführt. Und bei den Verfolgten in muslimischen Staaten sollte man in Erwägung ziehen, dass oft eine liberale Gesinnung - egal ob bei Christen oder bei Muslimen - stärkere Verfolgung nach sich zieht als fromme Religionsausübung.
Fakt ist: Viele Christen werden wegen ihres Glaubens verfolgt. Sehr viele. Wie viele es aber sind, kann keiner sagen. Fakt ist auch: Das Christentum ist mit geschätzten 2,2 Milliarden Menschen die mit Abstand größte Religion der Welt - mit erstaunlichen Wachstumsraten gerade außerhalb des „christlichen Abendlands". Da es in vielen Ländern aber eine Minderheitsreligion ist, insbesondere in den unfreiesten Ländern, hat das Christentum in absoluten Zahlen sehr wahrscheinlich die höchste Anzahl verfolgter Mitglieder.
Im Verhältnis zu ihrer Größe ist aber etwa die kleine Religionsgemeinschaft der Bahai ungleich stärkerer Verfolgung ausgesetzt. Aber - und das muss sich jeder fragen, der verfolgte Christen unterstützen will - was soll dieses ganze Vergleichen, diese Zahlenspielerei, das Vereinnahmen von Ermordeten, Drangsalierten, Verfolgten und Diskriminierten? Wem nützt es, wenn nach dem Mord, den Islamisten an dem Katholiken und pakistanischen Politiker Shahbaz Bhatti verübt haben, von Christenverfolgung gesprochen wird, nach dem Mord an dem liberalen Muslim und Politiker Salmaan Taseer - ebenfalls in Pakistan von einem Islamisten verübt - aber eher Sprachlosigkeit herrscht?
Was die verfolgten Christen am wenigsten brauchen können, sind westliche Schutzmächte und Hilfsorganisationen, die unter dem Eindruck der „größten Christenverfolgung aller Zeiten" - so Open Doors - nur noch verfolgte Christen sehen. Was verfolgten Christen helfen kann, ist das Eintreten für Religionsfreiheit, egal wo, egal für wen. Dazu gehört, dass man Unrecht, Feigheit und Niedertracht beim Namen nennt. Zum Beispiel wenn 500 „gemäßigte" islamische Geistliche in Pakistan die Ermordung eines - in diesem Fall muslimischen - Politikers gutheißen; Hunderte von Anwälten anbieten, den Attentäter kostenlos zu verteidigen; und Tausende Pakistani den Mörder bejubeln. Da kann man dann auch Zahlen nennen.
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