Wir sind schon zu viele

Wie viele Menschen die Erde auf Dauer erträgt, kann niemand genau sagen - nicht zuletzt weil das von ihrem Konsumstandard abhängt. Doch sollen alle Menschen würdig leben können, dann sind sie bereits zu viele. Man sollte deshalb den Übergang zu niedrigen Geburtenraten fördern. Und wenn bei uns die Bevölkerung schrumpft, ist das eine gute Nachricht - die Folgeprobleme sind lösbar.

Die Diskussion über Bevölkerungsprobleme ist verwirrend, denn sie wird unter zwei gegensätzlichen Aspekten geführt. Der erste: Die Weltbevölkerung wächst übermäßig, bald wird die Erde nicht mehr alle ernähren können. Die Zahl der neu geborenen Kinder muss verringert werden. Der zweite Aspekt: Die Bevölkerung Deutschlands (und Europas) schrumpft, Überalterung droht. Es müssen wieder mehr Kinder geboren werden. Das scheint ein Widerspruch, aber es sind nur unterschiedliche Aspekte des gleichen Phänomens: der demografischen Transition.

Autor

Reinold E. Thiel

ist freier Journalist in Bonn.

Um 1800 lebten auf der Erde eine Milliarde Menschen. Knapp über zwei waren es 1933, als ich geboren wurde. Noch in diesem Jahr, im Oktober 2011, sollen es sieben Milliarden werden, wie der UN-Bevölkerungsfonds verkündet. Allein im Jahr 2010 sind 80 Millionen dazu gekommen, knapp so viele wie die Bevölkerung Deutschlands.

Schon zu Beginn der Industrialisierung, 1798, sagte Robert Malthus Hungersnöte voraus, weil die Bevölkerung schneller zunehme als die Nahrungsproduktion. Das stellte sich für seine Zeit als Fehlprognose heraus. Hungersnöte gab es, aber aus anderen Gründen als von Malthus vorausgesagt. Klimatische Veränderungen (wie nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora 1816), Pflanzenkrankheiten wie die Kartoffelfäule 1845 oder Marktspekulationen waren die Ursachen. Die Bevölkerung nahm zu, weil die moderne Medizin und Hygiene die Kindersterblichkeit verringerte, Epidemien bekämpfte und die Lebenserwartung verlängerte. Aber sie konnte ernährt werden, weil die landwirtschaftliche Produktion noch stärker stieg. Die zunächst hohen Wachstumsraten der Bevölkerung nahmen mit wachsendem Wohlstand wieder ab, denn die Geburtenrate sank - das war die demografische Transition. In Europa und den europäisierten Staaten der Welt wurde die Bevölkerungszahl wieder stabil.

Wie viele Menschen die Erde tragen kann, ist umstritten

Malthus räsonierte noch mit Blick auf den Nationalstaat. Erst als man begann, global zu denken, konnte das Konzept der Endlichkeit der Ressourcen Gestalt annehmen. Übermäßiges Bevölkerungswachstum fand nun in Ländern statt, die am Anfang der Industrialisierung oder noch vor ihr standen, in denen aber die moderne Medizin schon ihre Rolle spielte - auf allen Kontinenten, auf dem ganzen Globus. 1966 veröffentlichte Kenneth Boulding seinen Essay über die „Ökonomie des Raumschiffs Erde": Wir haben nur die eine, und mit ihren Vorräten müssen wir haushalten. Dass diese Vorräte endlich sind, zeigte Dennis Meadows mit seinen „Grenzen des Wachstums" 1972, und Mathis Wackernagel kam 1995 auf die Idee, dass sich die Tragfähigkeit der Erde als „ökologischer Fußabdruck" der darauf lebenden Menschen verstehbar machen lasse. Zu dieser Zeit überstieg nach seiner Berechnung der Ressourcenverbrauch die biologische Kapazität der Erde bereits um ein Fünftel; schon damals lebten wir vom Ersparten.

Natürlich lag das mehr am hohen Konsum in Europa und Nordamerika als an der hohen Zahl armer Menschen in der Dritten Welt. Aber wenn das Ziel ein gleich hoher Lebensstandard für alle sein sollte, dann musste man jetzt beginnen, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen. Die Entwicklungspolitik reagierte darauf: Familienplanungsprogramme, die Verhütung und eine geringere Geburtenzahl propagieren sollten, wurden zu einem Arbeitsschwerpunkt. Mit Erfolg: In einer Reihe von Ländern gelang es, trotz anhaltender Armut die Zahl der Geburten pro Frau und damit das Bevölkerungswachstum zu senken - das bekannteste Beispiel ist Bangladesch.

Wie viele Menschen die Erde tatsächlich tragen kann, ist umstritten, vor allem weil die Zahl vom damit verbundenen Lebensstandard abhängt. Je voller die Erde ist, um so ungemütlicher wird es auf ihr werden. Der Ulmer Ökonom Franz Josef Radermacher nennt als Messzahl für die langfristige Tragfähigkeit eine Milliarde. Ziel der Politik müsse sein, dahin zurückzukommen. Auch wenn Radermacher provozieren wollte und wir schon fast das Zehnfache erreicht haben, macht seine Zahl doch die Dimension deutlich, um die es geht.

Von Boulding ist das Diktum überliefert: „Wer glaubt, in einer endlichen Welt könne exponentielles Wachstum unendlich lange andauern, muss entweder ein Verrückter oder ein Ökonom sein." Aber genau diese Art von Ökonomen übernahm in den achtziger Jahren das Regime - es war die Zeit von Präsident Rea-gan. Sie verbündeten sich mit christlichen Gruppen, die Verhütung für Teufelswerk hielten, und die Verringerung der Geburtenzahl wurde aus dem Zielkatalog der Entwicklungszusammenarbeit gestrichen. 1994 fand in Kairo die Weltbevölkerungskonferenz statt, zu deren Beginn Nafis Sadik, die pakistanische Leiterin des UN-Bevölkerungsfonds, forderte, „dass wir uns für konsequente Maßnahmen entscheiden müssen, um das Bevölkerungswachstum aufzuhalten". Aber die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), die die Konferenz dominierten, verkündeten, es gebe „kein globales Bevölkerungsproblem". Als die Konferenz gelaufen war, waren die Hauptziele des verabschiedeten Aktionsplans „reproduktive Gesundheit" und mehr Mitsprache für Frauen; die Verringerung des Bevölkerungswachstums spielte nur noch am Rande eine Rolle.

In China wird die Bevölkerungszahl ab 2030 wieder abnehmen

Damals umfasste die Weltbevölkerung 5,5 Milliarden Menschen. Heute sind es sieben Milliarden, und das Wachstum beschleunigt sich wieder. Vor zwei Jahren hatte der UN-Bevölkerungsfonds noch 9,15 Milliarden für die Jahrhundertmitte prognostiziert, nach dem neuesten Bericht sollen es 9,31 Milliarden sein. Es ist wahr, in den letzten zwanzig Jahren haben sich die Zuwachsraten verringert. Aber in einer Reihe von Ländern, hauptsächlich in Afrika und im Nahen Osten, liegen sie noch immer bei drei bis vier Prozent - in den einen, weil sie zu arm, in den anderen, weil sie zu reich sind. Die Gesamtzahl der Weltbevölkerung ist heute schon bei weitem zu groß, wie die drohende Knappheit bei Wasser, Energierohstoffen und Nahrungsmitteln zeigt. Bisher hat nur China gezeigt, dass es die Schwere des Problems erkannt hat. Mit seiner Ein-Kind-Politik, deren Rigidität durch zahlreiche Ausnahmen schon vor längerer Zeit gemildert wurde, hat es erreicht, dass seit einigen Jahren die Zahl der Neugeborenen jedes Jahr niedriger ist als im Vorjahr. Damit wird auch China künftig die Probleme des Wachsens gegen die des Schrumpfens eintauschen.

Damit sind wir bei schrumpfenden Bevölkerungszahlen in Europa, vor allem in Deutschland. Die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts zur demografischen Entwicklung haben seit einigen Jahren zu Panikdiskussionen geführt. In der jüngsten (von 2009) heißt es, bis 2060 werde „das jährliche Geburtendefizit ... auf mehr als das Dreifache zunehmen". Dieses Defizit betrug 2008 bereits 162.000.

Nun ist das eigentlich eine gute Nachricht. Das Bevölkerungswachstum kommt zum Stillstand, jetzt bei uns, in anderen Ländern später. Für China ist auszurechnen, dass die Bevölkerungszahl ab etwa 2030 wieder abnehmen wird. Wenn wir den Globus bis dahin nicht ruinierthaben, besteht Aussicht, dass er noch zu retten ist. Und die Probleme der Länder, deren Bevölkerung zu schrumpfen beginnt, lassen sich lösen. Das Fehlen der Facharbeiter, das jetzt in Deutschland beklagt wird, ist keine Folge des Bevölkerungsrückgangs: Es fehlen die, denen in den letzten zwei Jahrzehnten Ausbildungsplätze verweigert wurden und die heute arbeitslos sind. Die alterungsbedingten Probleme kommen erst noch auf uns zu. Aber auch die sind lösbar. Das erfordert allerdings ein anderes Wirtschaftskonzept. Die Gewinne aus dem Anstieg des Bruttosozialprodukts und der Arbeitproduktivität müssen zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems eingesetzt werden statt zur Steigerung der privaten Profite. Eine Wirtschaft, die nicht Bedarfsdeckung zum Ziel hat, sondern Wohlstandsmüll produziert, den sie mit obszöner Werbung an die Kunden bringt, muss sich umstellen auf andere Verteilungsmaßstäbe. Das ist die künftige Bedeutung von Corporate Social Responsibility.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2011: Wir konsumieren uns zu Tode
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