Seit 2001 sind schätzungsweise gut 15 Milliarden US-Dollar Hilfe nach Afghanistan geflossen. Wurde das Geld sinnvoll investiert? Wer profitiert am meisten davon?
Um es zugespitzt auszudrücken: Die afghanische Bevölkerung hat den wenigsten Nutzen. Das Geld hat nicht bewirkt, dass die Lebenssituation eines großen Teils der Bevölkerung heute grundlegend anders ist als zu Zeiten der Taliban. Man liest häufig, dass wieder viel mehr Mädchen zur Schule gehen und 85 Prozent der Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung haben. Das hat aber mit der Realität nicht mehr viel zu tun – es hat erhebliche Rückschläge gegeben. Viele Mädchen und Jungen gehen nicht mehr zur Schule, Ärzte fliehen die ländlichen Gebiete, weil es zu gefährlich ist. Profitiert haben vor allem die früheren Warlords, die in die Regierungsstrukturen eingebunden wurden – nicht zuletzt, weil der Westen das so wollte. Die Warlords haben mit Geld aus dem Drogenhandel und den Finanzspritzen der CIA für den Kampf gegen die Taliban die Reste der legalen afghanischen Wirtschaft aufgekauft. Jetzt sitzen diese Leute im Parlament und sind praktisch immun. Einige von ihnen protegieren den Drogenhandel und kriminelle Netzwerke. Auch einige neu Aufgestiegene um Karsai sind sehr reich geworden. Sie profitieren stark von Privatisierungen.
Welche Erfolge hat denn das internationale Engagement in Afghanistan in den vergangenen acht Jahren gebracht?
Beim Wiederaufbau der Wirtschaft und bei der Armutsbekämpfung hat es punktuelle Fortschritte gegeben, aber die Lage hat sich insgesamt nicht deutlich verbessert. Vor allem in den ersten Jahren nach 2001 gab es ein beträchtliches Wirtschaftswachstum, das sich inzwischen aber wieder verlangsamt hat. Das liegt zum einen daran, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat, zum anderen an der Korruption und der immer noch überbordenden Bürokratie. Zudem wächst die Kriminalität: Jeder, der heute in Afghanistan investiert und Erfolg hat, muss mit Forderungen nach Schutzgeld rechnen.
In welchen Wirtschaftsbereichen gab es Wachstum?
Traditionell stark ist der Handel, wobei ein großer Teil davon illegal verläuft, sich nicht in den Statistiken niederschlägt und dem Staat keine Steuereinnahmen bringt. Der Anteil der eigenen Einnahmen im afghanischen Staatshaushalt liegt immer noch bei unter zehn Prozent, der Rest stammt aus externen Quellen. Gewachsen ist außerdem die Bauwirtschaft, vor allem dank der Aufträge der internationalen Geber. Hingegen gibt es kaum produzierendes Gewerbe, und auch die Landwirtschaft erzeugt weiterhin vor allem für den Eigenbedarf. Es werden kaum Agrarprodukte verarbeitet oder exportiert. Die internationale Gemeinschaft hat die Entwicklung der Landwirtschaft jetzt zu einem Schwerpunkt gemacht. Aber die afghanischen Bauern brauchen weniger ausländische Agrarexperten, sondern Saatgut, Dünger und Kleinkredite. Zudem leiden sie darunter, dass ihre Felder vermint und Bewässerungsanlagen zerstört sind. Eine der wichtigsten Einkommensquellen im ganzen Land ist die Arbeitsmigration. Im Südosten gibt es ganze Dörfer fast ohne arbeitsfähige Männer, weil die alle in Dubai auf den Baustellen sind. Die Rücküberweisungen halten viele Menschen in Afghanistan über der Armutsgrenze.
Was muss bei der Hilfe für Afghanistan geändert werden, so dass sie auch der Bevölkerung nutzt?
Es müsste mehr Gewicht auf den Aufbau von Kapazitäten sowohl in der Regierung als auch in der Zivilgesellschaft gelegt und zugleich die Korruption stärker bekämpft werden. Zudem müsste das so genannte subcontracting, also die Vergabe von Durchführungsaufträgen an Subunternehmer, abgeschafft werden. Denn dabei werden große Teile der Hilfszahlungen abgezwackt. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Hilfsorganisationen zu vielen Gebieten keinen Zugang mehr haben. Das erleichtert, dass sie betrogen werden.
Nach dem Debakel der Präsidentschaftswahl haben viele Fachleute gefordert, die Demokratisierung Afghanistans müsse stärker „von unten“ gestaltet und die Bevölkerung mehr beteiligt werden. Wollen die Afghanen das überhaupt?
Natürlich wollen sie stärker an Entscheidungen beteiligt werden, die ihr Leben betreffen. Es gibt in der traditionellen afghanischen Gesellschaft viele Formen der Selbstorganisation. So werden vermutlich 90 Prozent aller Streitfälle von lokalen Versammlungen wie Dschirgas oder Schuras geregelt, ohne dass eine staatliche Stelle eingeschaltet wird. Es gibt längst auch moderne Formen der Selbstorganisation in Programmen von nichtstaatlichen Organisationen oder der Regierung. Ein Beispiel ist das National Solidarity Program, in dem lokale Entwicklungsräte über die Verwendung von Hilfsgeldern entscheiden. In westlichen Medien heißt es jetzt häufig, der Export der Demokratie nach Afghanistan sei gescheitert. Das klingt so, als sei Demokratie in Afghanistan nicht möglich. Aber das ist falsch. Die Afghanen wollen nur nicht, dass ihnen der Westen immer wieder vorschreibt, wie sie zu wählen haben.
Warum hat man Ansätze, die auf lokalen Strukturen aufbauen, nicht stärker gefördert?
Genau das ist auf der Petersberg-Konferenz im Dezember 2001 beschlossen und auch umgesetzt worden: Die Loya Dschirgas, die die Übergangsregierung bildeten und die neue Verfassung beschlossen, wurden von unten aufgebaut. Leider ist den Afghanen dann Hamid Karsai als einziger Kandidat für das Präsidentenamt vorgesetzt worden. Die gewählten Provinzräte werden von Karsai schwach gehalten und die ebenfalls vorgesehenen Distrikträte sind bis heute nicht gewählt worden. Karsai war zu viel Selbstorganisation nicht genehm, und der Westen wollte keine Alternativen zu ihm zulassen. Jetzt, da sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Afghanen erkennen, dass es mit dieser Regierung nicht geht, zeigt sich, dass es ein Fehler war, den Afghanen immer wieder die Entscheidungen aus der Hand zu nehmen. Die sagen jetzt: „Wenn das Demokratie ist, dann wollen wir lieber keine.“
Warum haben einzelne westliche Staaten oder die Vereinten Nationen nicht schon längst Einspruch erhoben?
Weil die USA in Afghanistan klar den Kurs und das Tempo bestimmen und alle anderen mangels eigener Strategien mitmachen. Versagt haben vor allem die Europäer, die kein eigenes Konzept haben. Gerade von ihnen haben viele Afghanen Hilfe für eine wirkliche Demokratisierung erwartet.
Wird sich die US-Politik jetzt ändern?
Der Strategievorschlag von ISAF-General McChrystal, die afghanische Bevölkerung zu schützen statt Taliban zu jagen, kommt Jahre zu spät. Viele Afghanen wollen sich nicht mehr von US-Truppen schützen lassen.
Welchen Sinn macht es, sich weiter in Afghanistan zu engagieren, wenn der wichtigste Spieler einen falschen Kurs vorgibt?
Es nur auf die USA zu schieben, wäre falsch. Die Bundesregierung und die anderen europäischen Staaten tragen dafür Mitverantwortung. Vor allem aber: Man sollte für unsere Fehler nicht die Afghanen büßen lassen.
Aber ist die westliche Welt nach dem Durcheinander um die Präsidentschaftswahl aus afghanischer Sicht überhaupt noch glaubwürdig?
Die Glaubwürdigkeit des Westens hat stark gelitten. Nach dem Rückzug seines Gegenkandidaten Dr. Abdullah so zu tun, als ob Karsai – der ein Drittel seiner Stimmen gefälscht hat – ganz normal gewählt worden ist, ist unglaublich. Die letzte Chance wäre jetzt, einen breiten politischen Prozess einzuleiten, weitere politische und soziale Kräfte einzubeziehen und einen neuen Konsens herzustellen, wie es in Afghanistan weitergehen soll. Aber die Chancen dafür sind wohl gering.
Gibt es solche glaubwürdigen politischen Kräfte in Afghanistan?
Ja, aber sie sind schwach und zerstreut – auch deshalb, weil wir uns jahrelang nicht um sie gekümmert haben. Ich habe auch Zweifel, dass der Westen moralisch in der Lage ist, Karsai unter Druck zu setzen, seine Regierungsführung zu verbessern. Karsai muss ja jetzt seine Wahlversprechen einlösen und diverse Warlords in die Regierung holen. Die Folge wird sein, dass er keine großen politischen Änderungen bewirken kann. Die Prognose ist also eher düster.
Wie kann man verhindern, dass lokale Machthaber und Kriegsherren auch eine Demokratisierung von unten vereinnahmen?
Die Gefahr besteht natürlich. Hinzu kommt, dass man in einigen Gegenden große Schwierigkeiten haben wird, lokale demokratische Gremien einzuberufen, weil die Leute von den Taliban oder lokalen Machthabern eingeschüchtert werden. Aber man muss trotzdem damit anfangen, wo es möglich ist. Die Staatengemeinschaft muss Rahmenbedingungen dafür herstellen, dass die Afghanen gleichberechtigt miteinander diskutieren können und nicht allein die militärisch und wirtschaftlich starke Seite den Ton angibt.
Die Taliban scheinen stärker geworden zu sein. Ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung gewachsen?
Örtlich haben sie durchaus Rückhalt, weil sie in den Stämmen verankert sind und weil es viele lokale Motive dafür gibt, sich den Aufständischen anzuschließen – zum Beispiel, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Zugleich ist ihr Einschüchterungspotenzial mittlerweile so groß, dass die Leute nicht in der Lage sind, sich gegen sie zu wenden, selbst wenn sie es wollten. Die Taliban sind also ein politischer Faktor, mit dem man rechnen muss. Andererseits hat die Taliban-Führung selbst bereits Signale gesandt, dass sie für eine politische Lösung offen sein könnte. Mullah Omar hat Anfang Oktober erklärt, die Taliban hätten noch nie andere Länder bedroht und hätten das auch künftig nicht vor. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass man nicht mit al-Qaida in einen Topf geworfen werden will. Ich plädiere deshalb für den Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wie das auch der UN-Sondergesandte Kai Eide vorschlägt.
Würden eine Demokratisierung und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse dem Aufstand den Boden entziehen? Oder spielen auch davon unabhängige innerafghanische Machtkämpfe eine Rolle?
Lokale Faktoren und Machtkämpfe sind tatsächlich ein zentraler Faktor; sie entscheiden oft, ob jemand auf Seiten der Regierung oder der Taliban steht. Wichtig wäre, solche Konflikte von der militärischen auf die politische Ebene zu holen. Wenn es gelänge, den Gewaltpegel zu senken – und sei es nur um ein Drittel –, dann wäre das ein großer Fortschritt für die Afghanen. Es würde Freiräume auch für neue politische Ansätze schaffen.
Könnten Versuche der Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung die Lage in Afghanistan verbessern helfen?
Das wäre ganz wichtig, aber die Bedingungen dafür sind äußerst schlecht. Die Warlords haben im Parlament eine Resolution durchgebracht, die genau eine solche Aufarbeitung verhindert. Es ist sehr schwer für Leute, die von Gewalt betroffen waren, sich zu treffen und darüber zu reden, geschweige denn sich zu organisieren und an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch hier hat der Westen vor allem Lippenbekenntnisse geleistet und sich viel zu wenig engagiert – zum Beispiel bei der Entwaffnung der Milizen dieser Warlords. Wäre das geschehen, dann würde die politische Landschaft in Afghanistan heute anders aussehen.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen
Thomas Ruttig ist Politikanalytiker mit Fachgebiet Afghanistan und Mitgründer des Afghanistan Analysts Network (www.aan-afghanistan.org). Er hat rund zehn Jahre in Afghanistan gearbeitet, unter anderem für die UN, die EU und die deutsche Botschaft.
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