Gift, Müll und das Meer

Seit Jahrzehnten verschmutzen und überfischen wir unsere Ozeane. Im Atlantik und Pazifik treiben inzwischen gigantische Inseln aus Plastikmüll. Erdöl tritt aus Förderplattformen aus, Chemikalien aus Industrieabwässern und Düngemittel aus der Landwirtschaft werden in die Ozeane gespült, der Fischfang hat ein Rekordhoch erreicht. So gerät das Ökosystem Meer aus den Fugen und das Artensterben beschleunigt sich.

Wer liebt nicht die Weite bis zum Horizont, wo Himmel und Wasser verschmelzen? Das unendliche Blau, Türkis oder Grün – mal wellig, mal spiegelglatt? Doch die Meere sind nicht nur ein ästhetisches Erlebnis. Sie beherbergen 90 Prozent der Biomasse der Erde, eine riesige Artenvielfalt und versorgen über eine Milliarde Menschen mit lebenswichtigem Eiweiß. Sie binden Kohlendioxid aus der Luft – dienen also als Kohlenstoffsenke –, produzieren Sauerstoff und spielen eine entscheidende Rolle im Kohlenstoff- und Wasserkreislauf der Erde. Die Meere bedecken 70 Prozent der Erdoberfläche und prägen unser Klimasystem. Wir brauchen gesunde Ozeane im Gleichgewicht, ohne sie können wir nicht existieren. Doch wir behandeln sie nicht mit dem nötigen Respekt.

Autorin

Iris Menn

ist promovierte Meeresbiologin und arbeitet bei Greenpeace in Hamburg.

Rund 145 Millionen Tonnen Fisch wurden weltweit 2009 aus den Meeren geholt – 118 Millionen davon für den menschlichen Verzehr, der Rest wurde zu Fischmehl verarbeitet. Nach aktuellen Berichten der Welternährungsorganisation (FAO) ist die Überfischung 2010 auf ein Rekordhoch geklettert: 53 Prozent der Speisefischbestände werden bis an die Grenze genutzt, noch höhere Fangmengen würden die Bestände gefährden. 32 Prozent sind überfischt oder zusammengebrochen. Bei lediglich drei Prozent der Bestände könnten mehr Fische gefangen werden, ohne dass der Bestand gefährdet wäre. In europäischen Gewässern ist die Lage noch dramatischer: 88 Prozent aller Speisefischbestände, etwa Kabeljau in der Nordsee, sind überfischt. 30 Prozent sind so stark ausgebeutet, dass diese Bestände sich vermutlich nicht mehr regenerieren können.

Doch es wird nicht nur zuviel Fisch aus den Meeren geholt. Auch die Methoden dafür sind zerstörerisch. Eine der Schlimmsten ist die Grundschleppnetz-Fischerei. Dabei wird ein riesiges Netz über den Meeresboden gezogen, das wie ein Pflug auf dem Acker den Meeresboden umwälzt. So werden Lebensräume wie Unterwasserseeberge oder Korallenriffe völlig zerstört – auch solche, die man noch gar nicht kennt, denn mittlerweile fischen Grundschleppnetze in einer Tiefe von 1500 Metern. Diese Form der Fischerei richtet nicht nur enormen Schaden an, sie erzeugt auch viel Beifang: Alles, was sich dem Netz in den Weg stellt, landet darin. So kann ein Fang auf Scholle, Seezunge oder Krabben in der Nordsee bis zu 80 Prozent Beifang haben. Dies sind andere Tiere wie Seesterne, Krabben oder Jungfische, die meist tot wieder über Bord gekippt werden. Weltweit werden so jedes Jahr bis zu 30 Millionen Tonnen Lebewesen unnötig getötet.

Die Arktis ist ein hochsensibler Lebensraum

Neben den Fischbeständen bergen die Meere noch weitere Schätze: Öl, Gas, Mineralien, Sand und Kies rufen in einigen Meeresregionen eine Goldgräberstimmung hervor. Wie gefährlich ihre Ausbeutung sein kann, hat zuletzt im April 2010 der Unfall auf der Ölplattform „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko gezeigt. Innerhalb von 87 Tagen liefen geschätzte 780 Millionen Liter Öl aus. Unzählige Fische, Schildkröten, Robben, Wale, Muscheln, Krebse, Seevögel und andere Meerestiere kostete dies das Leben. Auch wir Menschen sind gefährdet, denn das Öl reichert sich in der Nahrungskette an und landet am Ende auf unseren Tellern.

Obwohl die langfristigen Folgen der Katastrophe im Golf von Mexiko noch unklar sind, wurde bereits weniger als ein Jahr danach erneut in demselben Gebiet nach Öl gebohrt. Nicht nur Unfälle tragen im Übrigen zur Ölverschmutzung der Meere bei. Fast noch schlimmer ist der Ölverlust während des normalen Betriebs der Plattformen. Weltweit gibt es rund 6000 Ölplattformen, allein 400 davon in der Nordsee. Auch die Arktis steht im Fokus der Ölindustrie. Unter dem Eis des arktischen Ozeans, das infolge des Klimawandels immer mehr schwindet, werden große Öl- und Gasvorkommen vermutet. Noch lässt die Eisdecke keine Förderung zu, aber die fünf Anrainerstaaten - Norwegen, Kanada, USA, Russland, Dänemark (Grönland) – lassen keine Zweifel an ihrem Interesse daran. Dabei ist die Arktis ein ungleich sensiblerer Lebensraum. Aufgrund der Kälte sind Wachstum, Vermehrung und damit auch eine mögliche Regeneration nach einer Katastrophe deutlich verlangsamt. Und das Risiko für eine solche ist durch Stürme und treibende Eisberge wesentlich höher.

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Neben Öl und Gas werden auch Sand und Kies in den Meeren abgebaut. Aber vor allem Rohstoffe in der Tiefsee wie Mangan, Gold, Silber, Platin und andere Buntmetalle wecken das Interesse von Industrie und Staaten. All diese Abbauprozesse schädigen die Ökosysteme sehr stark. Beim Abbau von Sand und Kies tragen Saugbaggerschiffe den Boden oft metertief ab und „entnehmen“ dadurch Sandbänke und Kiesflächen mit allen dort vorkommenden Lebewesen. Dabei sind Sandbänke auf der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen in der Nordsee als gefährdet oder stark gefährdet eingestuft. Die früheren Bewohner können nach dem Abbau die betroffenen Flächen meist nicht mehr besiedeln.

Neben dem direkten Eingriff durch das Baggern treten häufig zusätzliche Schäden auf, die wesentlich weiträumiger sind: Die aufgewirbelten feinen Sedimente verteilen sich großräumig mit der Strömung. Die Folgen sind eine Trübung des Wassers, überlagerte und erstickte Riffe und eine Erhöhung des Anteils an Feinsedimenten in der Umgebung. Das schädigt vor allem Tiere, die zum Leben auf gröbere Sedimente angewiesen sind, wie Sandaale in der Nordsee.

Die Ausbeutung der Meeresschätze in der Tiefsee steckt im Vergleich dazu noch in den Anfängen und es sind noch viele technische Probleme zu lösen. Aber auch hier deutet sich bereits an, dass die Umweltfolgen vernachlässigt werden. Der Abbau führt zur lokalen Zerstörung der Lebensgemeinschaften und des Lebensraums. Zudem entsteht wie beim Sand- und Kiesabbau eine Trübungswolke, die am Boden lebende Organismen wie zum Beispiel Schwämme zudeckt.

Handelsschiffe reinigen auf offenem Meer ihre Tanks

Auch unser Handeln an Land bleibt nicht ohne Folgen für die Ozeane. Denn die Flüsse münden in die Meere und tragen alles in sie hinein, was sie auf ihrem langen Weg durch das Land angesammelt haben: Müll, Chemikalien, Giftsstoffe und Düngemittel. In einigen Meeresregionen konzentriert sich der Müll aufgrund der Meeresströmungen – zum Beispiel im Nordost-Pazifik, etwa tausend Kilometer nördlich von Hawaii. Dort schwimmt ein Strudel aus Plastikteilen mit einer Ausdehnung, die der Gesamtfläche von Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen, Belgien, Luxemburg und den Niederlande entspricht. Gerade Plastikmüll stellt für viele Meerestiere eine elementare Bedrohung dar. Meeressäuger verstricken sich in abgerissenen Fischernetzen oder Seevögel ersticken in den Plastikringen, mit denen Getränkedosen zu Sechserpacks zusammengehalten werden.

Mit den Jahren zerfällt der Plastikmüll in immer kleinere Bestandteile, schwimmt aber bis zu 16 Jahre im Strudel des Pazifiks. Die kleinen Teile sind besonders gefährlich für Fische und Wasservögel, die sie mit Essbarem verwechseln. Da die Plastikteile ihre Mägen verstopfen und keinen Platz mehr für Flüssigkeit und echte Nahrung lassen, verhungern und verdursten die Tiere.

Neben Müll landen auch Chemikalien und Giftstoffe in den Meeren. Tanker und Handelsschiffe reinigen noch immer auf dem offenen Meer ihre Tanks – so landet Öl und Treibstoff im Meer. Die Schwermetalle im Meer – zum Beispiel Quecksilber, Nickel und Blei – stammen hauptsächlich aus Industrieabwässern. Diese Metalle sind so gefährlich, weil sie sich – einmal über die Nahrung aufgenommen – im Körper anreichern. Dort können sie die Funktion wichtiger Enzyme stören, krebserregend wirken oder Gewebe schädigen. Erfreulicherweise hat sich diese Belastung durch den Einsatz neuer Filter und Abwassertechniken in den vergangenen Jahren erheblich reduziert. Heute sind die Altlasten von Schwermetallen das größte Problem. Gerade in den Sedimenten der Mündungsbereiche großer Flüsse finden sich hochkonzentrierte giftige Schwermetall-Cocktails. Die Flussmündungen werden regelmäßig ausgebaggert, um für die Schifffahrt die Wassertiefe künstlich zu vergrößern. Das Baggergut müsste eigentlich als Sondermüll entsorgt werden. Dennoch wird es häufig im Meer verklappt, wobei ein Teil der Schwermetalle erneut mobilisiert wird und in die Nahrungskette gelangt.

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Nicht zuletzt beeinträchtigt die Landwirtschaft das Meer. Dabei ist die Überdüngung (Eutrophierung) das Hauptproblem. Nach dem massenhaften Einsatz von Kunst- und Naturdünger gelangen die darin enthaltenen Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor über die Flüsse ins Meer. Auch dort fördern sie – ebenso wie an Land – das Pflanzenwachstum: Viele Algen vermehren sich explosionsartig, überwuchern andere Wasserpflanzen und sinken am Ende abgestorben auf den Grund, wo sie von Mikroorganismen abgebaut werden. Dieser Prozess verzehrt viel Sauerstoff. Zurück bleiben große, dunkle, übel riechende Meeresflächen ohne Leben, so genannte anoxische (sauerstofffreie) Zonen.

Die Meere werden auch durch die Auswirkungen des Klimawandel besonders belastet. Schon eine geringfügige Veränderung der Wassertemperatur kann direkte Auswirkungen auf Meerestiere haben, denn viele fühlen sich nur innerhalb einer kleinen Temperatur-Spannbreite wohl. Wird das Wasser wärmer, wandern Kälte liebende Arten weiter in den Norden und Wärme liebende Arten aus dem Süden rücken nach. In der Nordsee wurden bereits die ersten Sardinen gesichtet, während der Kabeljau in den kälteren Norden abwan rekt. So fallen in der Nordsee wegen der veränderten Temperaturen die Eiablage des Kabeljau und das Planktonwachstum zeitlich nicht mehr zusammen. Dadurch entsteht eine Lücke in der Nahrungskette und den Jungfischen fehlt das Futter. Räuber und Beute harmonieren nicht mehr, eine Veränderung von Nahrungsnetzen und Artenzusammensetzungen folgt – das Gleichgewicht ist stark gestört.

Eine intakte Meeresumwelt ist für den Menschen unentbehrlich

Wegen der erhöhten Konzentrationen von Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre wird auch mehr Kohlendioxid im Meer aufgenommen. Das salzige Meerwasser wird saurer und das macht besonders Kalk bildenden Organismen das Leben schwer. Betroffen sind zum Beispiel Kieselalgen – winzige Algen, die am Beginn der Nahrungskette im Meer stehen und damit die Ernährungsgrundlage für alle Meeresorganismen darstellen – sowie Muscheln, Schnecken und Korallen. Die Folge: Auch hier werden Nahrungsketten umstrukturiert und das sensible Gleichgewicht im Ökosystem Meer gerät aus den Fugen.

Seit Jahrzehnten werden die Meere überfischt, verschmutzt und vermüllt. Längst sind sie nicht mehr unberührt und in den seltensten Fällen wirklich gesund. Mit ihrer geringen Widerstandsfähigkeit können die Meere den Auswirkungen des Klimawandels nicht trotzen. Doch diese werden dramatischer ausfallen als bisher erwartet: Eine vollständige Veränderung der Ökosysteme und ein nicht vorhersagbarer Artenverlust stehen bevor.

Zahlreiche staatliche Beschlüsse und internationale Vereinbarungen – zum Beispiel die Konvention zur Biologischen Vielfalt (CBD), das Seerechstübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS), regionale Meeresschutzkonventionen und die Gemeinsame Fischereipolitik der Europäischen Union – sollen die Artenvielfalt im Meer erhalten, Schutzgebiete einrichten oder eine nachhaltige Fischerei gewährleisten. In den meisten Fällen sind jedoch die vereinbarten Fristen verpasst und die Ziele nicht erreicht worden.

Eine intakte Meeresumwelt ist jedoch für den Menschen unentbehrlich – für die wirtschaftliche Entwicklung, für soziales Wohlergehen, für die Lebensqualität und die Ernährung. Um die Widerstandsfähigkeit der Meere zu stärken, sind Schutzgebiete – also Gebiete, in denen weder Fische gefangen noch Rohstoffe gefördert werden – ein wichtiges Werkzeug. Arten und Lebensräume werden geschützt und das gesamte Ökosystem kann sich erholen, Fischbestände eingeschlossen. Greenpeace fordert ein Netzwerk von großflächigen Schutzgebieten, das 40 Prozent der Meere abdeckt. Daneben ist eine ökologisch nachhaltige und sozial verträgliche Nutzung der Meere notwendig, denn nur so können wir die langfristige Nutzung ihrer Ressourcen auch für die folgenden Generationen gewährleisten.

 

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erschienen in Ausgabe 8 / 2011: Die Jagd nach dem dicksten Fisch
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