Das Podium über die „Herausforderung nicht ansteckende Krankheiten“ war hochrangig besetzt. Janet Vouté von Nestlé saß neben Astrid Williams von Pepsico. Geleitet wurde die Debatte von Jorge Casimiro, dem Sprecher von Coca-Cola. Die Auswahl so vieler Vertreter gleicher Interessen würde wohl selbst auf einem Wirtschaftsforum skurril anmuten. Doch die Fachleute aus der Lebensmittelindustrie diskutierten beim bisher größten Gipfel über nicht ansteckende Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herzkrankheiten, dem Globalen Forum der Weltgesundheitsorganisation WHO in Moskau.
Dort trugen sie ihre Forderung nach einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie auf eine „verantwortungsbewusste Werbung“ und die „Reformulierung von Nahrungsmitteln“ vor. „Es gab nicht eine kritische Stimme auf dem Podium“, ärgert sich Patti Rundall vom International Baby Food Action Network (IBFAN). „Dass Junkfood gesetzlich reguliert werden muss, weil die Industrie sich in ihren freiwilligen Verpflichtungen jede Menge Schlupflöcher schafft, haben wir nur aus dem Zuhörerraum einwerfen können.“
Spätestens seit dem Globalen Forum Ende April brodelt es innerhalb der WHO. Gestritten wird um nicht weniger als die Zukunft der 1948 gegründeten UN-Sonderorganisation. Wie die genau aussehen soll, ist unklar. Bei der jährlichen Generalversammlung im Mai forderten die Delegierten das Sekretariat auf, neue Konzepte zur künftigen politischen Architektur, zu einer unabhängigen Evaluierung der Arbeit sowie zur künftigen Struktur zu entwickeln. Doch was die WHO-Führung einen Monat später den Mitgliedsstaaten an streng vertraulichen Papieren vorlegte, war nur wenige Seiten lang und voller Allgemeinplätze. Die vielleicht schwierigste Debatte in ihrer Geschichte steht der WHO also noch bevor.
Dabei ist ihre Aufgabe klar beschrieben. Schon bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 kamen die Regierungen schnell überein, dass Gesundheit ein zentrales Thema sein müsste. Drei Jahre später trat die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation in Kraft, die in Artikel 1 den Zweck beschreibt, „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen“. Die Liste der Erfolge, die seitdem erzielt wurden, ist lang: Die Pocken wurden dank einer koordinierten Impfkampagne ausgerottet, bei der Kinderlähmung ist man beinahe so weit. Unabhängige Gesundheitsstandards und universelle Verfahren für die Einführung neuer Arzneimittel wurden entwickelt, ebenso Mindeststandards für die Gesundheitsversorgung etwa in Entwicklungsländern. Die WHO beobachtet den Ausbruch von Seuchen und setzt globale Maßnahmen fest. Nicht zuletzt hat sie – gegen starke Widerstände von Industrie und einzelnen Regierungen – einen völkerrechtlich bindenden Rahmenvertrag zur Eindämmung von Tabakgebrauch beschlossen.
Doch seit einigen Jahren werden die Erfolge zunehmend von Skandalen und Peinlichkeiten überschattet – und immer wieder spielt die kolportierte Nähe zur Pharmaindustrie eine Rolle. So etwa beim Auftreten der Vogelgrippe 2007, als Mitgliedsstaaten auf Anraten der WHO Millionen Dosen der Grippemittel Tamiflu und Relenza anschafften. Die befürchtete Pandemie blieb aus, mit rund 150 Toten gab es weniger Opfer als bei einer normalen Grippewelle. Der damalige Impfdirektor, der vor „bis zu sieben Millionen Toten“ gewarnt hatte, wechselte kurz darauf in die Pharmaindustrie. Zwei Jahre später geschah ähnliches, als für die Schweinegrippe die Pandemiestufe ausgerufen wurde. Die Impfdirektorin, die von einem Pharmakonzern zur WHO gekommen war, geriet unter den Verdacht, sich mit der Industrie verabredet zu haben. Das wurde mit einer Untersuchung widerlegt, doch der schlechte Eindruck blieb, auch wegen der katastrophalen Informationspolitik.
Es folgte die Entscheidung, den Forschungsdirektor eines Pharmakonzerns in ein Expertengremium zu berufen, das unter anderem die Finanzierung seines eigenen Projekts beschließen sollte. Trotz Protesten wurde er nur von der Diskussion über dieses Vorhaben ausgeschlossen, im Gremium durfte er bleiben. Dass das WHO-Sekretariat jetzt ein alle zwei Jahre wiederkehrendes „Weltgesundheitsforum“ nach Vorbild des umstrittenen Moskauer Gipfels etablieren will, ist für viele Kritiker der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. WHO-Chefin Margaret Chan spricht von einem Forum, bei dem sich Mitgliedsstaaten, WHO und private Akteure ohne inhaltliche Zwänge austauschen können. Kritiker fürchten, auf diese Weise werde der Industrie durch die Hintertür mehr Einfluss gewährt. „Der schleichend zunehmende Einfluss des privaten Sektors auf die Arbeit der WHO macht uns sehr besorgt“, klagt Katie Athersuch von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Unabhängigkeit der WHO stehe auf dem Spiel, nicht zuletzt weil die Einbeziehung privater Unternehmen und ihrer Gelder die finanzielle Eigenständigkeit der WHO gefährde. „Es wäre naiv zu glauben, dass Privatunternehmen, die ihren Aktionären verpflichtet sind, Geld ausgeben, ohne dass sie eine Gegenleistung erwarten.“
Das Beispiel einer anderen Organisation im Gesundheitsbereich, der Globalen Impfallianz GAVI, gibt ihr Recht. An der Initiative sind neben der WHO auch UNICEF, die Weltbank, die Gates-Stiftung und Pharmakonzerne beteiligt. Seit der Gründung im Jahr 2000 hat GAVI nach eigenen Angaben 288 Millionen Kinder geimpft und dafür mehr als 2,9 Milliarden Euro ausgegeben. GAVI macht Impfstoffe in ärmsten Entwicklungsländern verfügbar und krempelt dabei den Markt dafür ordentlich um. „Nehmen wir den Pneumokokken-Impfstoff. In den USA kostet er mehr als 60 Euro pro Dosis, für Sierra Leone zahlen wir nur zwei Euro“, so David Ferreira, einer der Geschäftsführer.
Zwar sind die Margen gering, doch die Masse garantiert Gewinn: Allein 600 Millionen Dosen Pneumokokken-Impfstoff hat GAVI von den Herstellern GlaxoSmithKline (GSK) und Pfizer für die Impfkampagnen in 72 Ländern bestellt. Kritiker werfen GAVI vor, für den Impfstoff immer noch zu viel zu bezahlen – auch deshalb, weil die Hersteller im Vorstand vertreten sind. Doch der Forderung, die Konzernvertreter aus dem Vorstand zu werfen, widerspräche die gesamte Konstruktion. „Wir sind dezidiert als öffentlich-private Partnerschaft gegründet worden“, sagt der Südafrikaner Ferreira. Nicht nur die Industrie, alle in der Allianz vertretenen Partner hätten Eigeninteressen. „Das wichtige ist, dass wir offen damit umgehen.“
Genau diese Offenheit aber trauen viele Staaten der WHO nicht zu. Diplomaten sprechen hinter vorgehaltener Hand von einer „Black Box“ und wollen die Reform vor allem nutzen, um die Arbeit der Organisation transparenter zu machen. So lässt sich anhand der bisherigen Haushaltstruktur nicht nachvollziehen, wofür genau die Einnahmen eigentlich verwendet werden. Auch deshalb, so glauben Delegierte bei der Generalversammlung, sind fast vier Fünftel der Zuschüsse an die WHO zweckgebunden. „Wenn man nicht weiß, was das Sekretariat mit dem Geld macht, legt man es lieber selber fest“, sagt der Delegationsleiter eines skandinavischen Landes am Rand der Versammlung. Fast schon flehentlich erklärte WHO-Chefin Chan während der Generalversammlung vor der Presse, sie sei bereit, von jedem Geber Geld anzunehmen, der irgendetwas im Bereich Gesundheit unterstützen wolle – egal was, so scheint es.
Denn so sehr inhaltlich diskutiert wird, drängend ist die Reformdebatte in der WHO vor allem aus diesem Grund: Die WHO mit ihren 8000 Angestellten ist höchst knapp bei Kasse. Ursprünglich sah das Budget für die Jahre 2012/2013 fast fünf Milliarden US-Dollar vor. Weil Einnahmen fehlen, kürzte die Generalversammlung eine Milliarde Euro. Doch selbst von den 3,95 Milliarden Dollar geplanter Ausgaben fehlen allein für dieses Jahr noch mehr als 300 Millionen. 300 der 2400 Stellen in der Genfer Zentrale sollen gestrichen werden. Die laufenden Kosten in Genf steigen zudem derzeit dramatisch, weil die Organisation in US-Dollar budgetiert, viele Ausgaben aber in Schweizer Franken tätigen muss. „Der starke Franken belastet uns sehr“, bestätigt Andrew Cassels, der den Reformprozess der WHO leitet. Vorstöße vor allem afrikanischer Nationen, mehr Personal in die regionalen Büros umzusiedeln, seien keine Lösung. „Nach Genf ist unsere Afrika-Zentrale in Brazzaville das teuerste Büro, das wir unterhalten. Das zeigt schon, wie gering da das Sparpotenzial wäre.“ Um die Ziele der Reform zu erreichen, müsse Personal abgebaut, nicht anders verteilt werden.
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Auch politisch wäre eine Stärkung der Regionalbüros umstritten. Vor allem die Gebernationen würden das kaum zulassen, denn anders als die Zentrale unterstehen die Regionalbüros nicht der Kontrolle der Generalversammlung. Wer in Afrika das WHO-Zepter führt, entscheiden allein die afrikanischen Staaten. Für die Geber, die über das Gesamtbudget die Arbeit vor Ort finanzieren (auf Afrika etwa entfällt ein Viertel des Gesamthaushaltes), ist das schon jetzt ein kaum zumutbarer Zustand, den sie im Rahmen der Reform beheben wollen. Zugleich ist es unwahrscheinlich, dass die großen Geber ihre Beiträge in absehbarer Zeit erhöhen werden. Wegen der Wirtschaftskrise sind die Regierungen im Westen aufs Sparen bedacht. Allenfalls sind sie, wie etwa die Schweiz, bereit, bislang zweckgebundene Mittel von der Zweckbindung zu befreien. Das Haushaltsloch der WHO füllt das nicht.
Deshalb, und weil Allianzen mit der Wirtschaft wie GAVI und der Globale Fonds für AIDS, Malaria und Tuberkulose als Erfolgsmodelle gelten, sucht WHO-Chefin Chan die Nähe zu alternativen Gebern. Schon jetzt ist die Bill-Gates-Stiftung mit 220 Millionen US-Dollar Jahresbeitrag der zweitgrößte freiwillige Beitragszahler nach den USA. Chefstratege Cassels hat bereits beim Weltwirtschaftsforum in Davos um Unterstützung geworben und kaum jemand zweifelt daran, dass auch das geplante Weltgesundheitsforum der WHO beim Fundraising helfen soll. Laut Chan soll es die politische Linie der WHO mitgestalten, aber wie seine Rolle genau aussehen soll, ist bestenfalls ungewiss.
„Es ist vollkommen unklar, wie die Ergebnisse des Forums in die WHO-Gremien eingespeist würden“, moniert MFS-Vertreterin Athersuch. Die WHO solle lieber den nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) die Beteiligung an den Debatten ihrer Generalversammlung erleichtern. Derzeit müssen diese ihre Redebeiträge 24 Stunden vorher schriftlich einreichen, Änderungen sind unzulässig. Viele Organisationen werden zudem von der WHO nicht anerkannt. Dass das Weltgesundheitsforum ebenso wie die WHO-Reform unter Ausschluss der NGOs stattfindet, höhlt das Vertrauen in den Vorgang weiter aus.
Andrew Cassels indes verteidigt das Vorgehen der WHO. Niemand wolle das Recht der Mitgliedsstaaten beschneiden, die WHO-Politik zu bestimmen. „Sie werden auch entscheiden, ob es ein Weltgesundheitsforum geben wird. Alles, was zurzeit diskutiert wird, sind Vorschläge.“ Derzeit werden die kommentierten Vorschläge in den Regionen debattiert, bei einer offenen Sitzung des Exekutivrats im November sollen alle Details auf dem Tisch liegen. Dass die Reform wie geplant im Mai 2012 abgeschlossen ist, glaubt indes selbst Cassels nicht: „Das wird nicht das Ende sein, sondern vielleicht das Ende vom Anfang.“ Davon, wie gut die Vorschläge ankommen, könnte nicht zuletzt die Zukunft von Margaret Chan abhängen. Die Chinesin will für eine neue Amtszeit kandidieren, doch ihre Aussichten sind ungewiss, nicht nur wegen der Kritik an ihrer Führung. Vor allem bei den afrikanischen Staaten wächst der Unmut, dass die WHO noch nie von einem Afrikaner geführt worden ist.
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