Der Titel der volkstümlichen Ballade „La vida no vale nada“ ist im mexikanischen Drogenkrieg zum Programm geworden: Die makabre und schauerliche Präsentation von Gewaltakten in der Öffentlichkeit – an Brücken aufgehängte kopflose Leichen, Massengräber, Folter und Hinrichtungen, die von den Drogenkartellen auf der Internetplattform YouTube zur Schau gestellt werden – zeigt deutlich, dass einem Menschenleben im brutalen Machtkampf kapitalistischer Organisationen keinerlei Wert beigemessen wird.
Autor
Peter Watt
lehrt an der Universität Sheffield in England. Er ist gemeinsam mit Roberto Zepeda Verfasser des Buches „Drug War Mexico. Politics, Violence and Neoliberalism in the New Narcoeconomy“ (Zed Books, 2012).Seit Präsident Felipe Calderón den Drogenkartellen vor sechs Jahren den Krieg erklärt hat, berichten die Medien von einer nicht abreißenden Flut von Gewaltverbrechen. Doch sie erfassen nur die Oberfläche einer zutiefst beunruhigenden Zunahme der Gewaltbereitschaft. Im Dezember wird Calderóns Nachfolger Enrique Peña Nieto sein Amt antreten. Damit übernimmt die Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) nach zwölf Jahren wieder die Regierung. Offenbar gewinnt immer der Kandidat die Wahlen, der das meiste Geld, die effektvollste Werbekampagne und die Unterstützung der großen Konzerne hat. Der demokratische Pluralismus in Mexiko, den Politiker, Wirtschaftsfachleute, Journalisten und Intellektuelle nach dem Machtwechsel im Jahr 2000 so enthusiastisch begrüßt hatten, bleibt im Wesentlichen bedeutungslos. Und es deutet wenig darauf hin, dass die neue Regierung gewillt oder in der Lage ist, die Macht der organisierten Kriminalität zu brechen. Die bringt der politischen und wirtschaftlichen Elite Mexikos sowie den mexikanischen, amerikanischen und britischen Banken nämlich einfach zu viel ein.
Laut einer Untersuchung des amerikanischen Heimatschutzministeriums bewegen sich die Profite aus dem Drogenhandel vermutlich zwischen 19 und 29 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das mexikanische Finanzministerium schätzt, dass die kriminellen Kartelle allein 2011 um die zehn Milliarden Dollar „reinwaschen“ ließen. Etwa 41 Prozent der Erträge aus Verbrechen stammen aus dem Drogenhandel. Menschenhandel und Menschenschmuggel machen 33 Prozent der gewaschenen Profite aus. Damit sind sie die zweitgrößte kriminelle Branche in Mexiko.
Drogen, Gewalt, Entführungen und Zwangsprostitution gehören nicht zu den wirtschaftlichen Errungenschaften, die die Vertreter des Freihandels, der Globalisierung und des Neoliberalismus den Mexikanern in Aussicht gestellt hatten. Aber sie sind keine Fehlentwicklung, sondern die logische Folge und ein integraler Bestandteil einer Weltwirtschaft, in der Profit- und Machtstreben Vorrang genießen gegenüber der Befriedigung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse, und in der Krisen und Elend als Investitionschancen gesehen werden.
Die Rolle der Banken im Drogenkrieg wird vernachlässigt
Medienberichte und Bücher konzentrieren sich meist auf das abscheuliche Treiben der Kartelle. Die Bedeutung des Bankwesens für die Geldwäsche wurde dagegen bisher weitgehend vernachlässigt. 2010 wurde in den USA ein Strafverfahren gegen die Wachovia-Bank eröffnet, die zum Wells-Fargo-Konzern gehört. Es stellte sich heraus, dass Wachovia keine der zur Verhinderung von Geldwäsche vorgesehenen Maßnahmen ergriffen hatte, als 379,4 Milliarden US-Dollar über mexikanische Wechselstuben eingeschleust wurden – eine Summe, die etwa einem Drittel des gesamten mexikanischen Bruttoinlandsprodukts entspricht.
Im Juli 2012 ergaben Nachforschungen des amerikanischen Senats, dass die HSBC-Tochter HBMX Einzahlungen aus Mexiko ohne Kontrollen akzeptiert hatte, obwohl diese generell als verdächtig eingestuft werden. Trotz mehrfacher Hinweise mexikanischer und amerikanischer Ermittler, dass kriminelle Organisationen die Bank zum Geldwaschen nutzten, verzichtete HBMX auf Überprüfungen, als Milliarden US-Dollar überwiesen und sieben Milliarden bar eingezahlt wurden.
Wenn man dagegen vorginge, dass Banken die Einnahmen aus dem organisierten Verbrechen „waschen“, könnte man den mexikanischen Drogenkartellen eine wirksamere Niederlage zufügen als durch die Legalisierung des Drogenkonsums oder die Jagd auf einzelne Drogenbosse. Doch wie mir ein ehemaliger Fachmann für Wirtschaftskriminalität bei Scotland Yard erklärt hat, wird keine westliche Regierung die Banken ernsthaft am Geldwaschen hindern. Denn sie brauchen eine ausreichende Liquidität, um ihre gewaltigen Profitspannen abzusichern und sich – vor allem angesichts der globalen Finanzkrise – vor dem Risiko eines Zusammenbruchs zu schützen. So haben die gutbürgerlichen Geschäftsleute aus der mexikanischen, amerikanischen und britischen Wirtschaftselite und die Verbrecher, die an der Spitze der Kartelle stehen, ein gemeinsames Interesse daran, dass die organisierte Kriminalität weiterhin blüht und gedeiht.
Das Freihandelsabkommen macht den Drogenhandel noch einfacher
Die verarmte mexikanische Bevölkerung leidet darunter am meisten. Dass die Regierungen Mexikos und der USA ernsthaft bemüht sind, deren Sicherheitslage zu verbessern, ist völlig unglaubhaft. Beide setzen bevorzugt auf Militarisierung, Zwang und Gewalt. Dabei werden die offiziellen Ziele des Drogenkriegs völlig verfehlt. So haben die illegalen Transporte von Kokain, Methamphetamin, Heroin und Marihuana über die amerikanische Grenze nicht nachgelassen. Dank besseren Transportmöglichkeiten und Straßen infolge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) ist der Drogenhandel sogar viel einfacher geworden.
Wenn es hauptsächlich darum ginge, dass weniger Drogen in die USA gelangen, hielten beide Regierungen nicht an einer Strategie fest, die sich als katastrophaler Fehlschlag erwiesen hat.
Auch die amerikanischen Waffenverkäufe nach Mexiko fördern die dortigen Bandenkriege. Man muss sich fragen, wie viele der 95.000 Menschen, die darin umgekommen sind, ohne den ständigen Nachschub an Schusswaffen aus den USA noch am Leben wären. Da der neue Absatzmarkt heiß umkämpft ist, befindet sich jetzt jedes achte amerikanische Waffengeschäft in der Nähe der mexikanischen Grenze. Wie in jedem Krieg sind die Nutznießer wenig an Frieden, Stabilität und Sicherheit interessiert.
Die Kluft zwischen der politischen Rhetorik und der Realität könnte kaum größer sein. Als Calderón Präsident wurde, rechtfertigte er die Strategie der Militarisierung damit, dass die mexikanische Jugend vor den schädlichen Auswirkungen des Drogenkonsums geschützt werden müsse. Doch wurden in Mexiko schon immer weniger Drogen konsumiert als in anderen Ländern der Region. Im Vergleich zu den USA, wo weltweit am meisten Drogen verkauft werden, ist die Nachfrage verschwindend gering. Zwar hat die Zahl der Abhängigen in den vergangenen sechs Jahren etwas zugenommen, doch handelt es sich dabei um nur 0,4 Prozent der Bevölkerung. In Deutschland gelten 2,1 Prozent der Bevölkerung als drogenabhängig, in den USA etwa drei Prozent – also etwa fünf Mal so viel wie in Mexiko. Zu dem geringfügigen Anstieg bei der Zahl der Abhängigen kam es dort außerdem erst, nachdem die Regierung ihren Krieg gegen die Drogen begonnen hatte.
Als weiterer Vorwand für die verstärkte militärische Präsenz auf den Straßen Mexikos diente das Argument, sie werde die Zahl der Morde verringern. Doch die von der Regierung selbst veröffentlichten Zahlen des Ministeriums für innere Sicherheit belegen für das Jahrzehnt vor Calderóns Amtsantritt einen Rückgang der Tötungsdelikte. Die massiven Repressalien unter seiner Führung hingegen bewirkten eine drastische Zunahme. So wurden laut offiziellen Angaben 2006 rund 11.775 Morde registriert, 2011 waren es 27.100.
Der Staat verfolgt Gewaltverbrecher nicht ernsthaft
Auch die Versprechen der Regierung, die Täter konsequent zu bestrafen, wären zum Lachen, wenn die Situation nicht so ernst wäre. Laut einer Untersuchung der mexikanischen Menschenrechtskommission für das Jahr 2008 wird schätzungsweise nur jedes zehnte Gewaltverbrechen in Mexiko angezeigt. Außerdem wurde nur etwas mehr als ein Prozent aller Delikte bestraft. Diese Bilanz spricht nicht dafür, dass der Staat ernsthaft gewillt ist, Gewaltverbrecher einer gerechten Strafe zuzuführen.
Und welche Rolle spielt das Militär? Im Jahr 2006, als Präsident Calderón nach nur zehn Tagen im Amt der organisierten Kriminalität den Krieg erklärte, stockte er die Zahl der Soldaten und Polizisten auf den Straßen auf 50.000 auf – mehr als der britische Premierminister Tony Blair für den Einmarsch im Irak abgestellt hat. Laut Amnesty International gingen während der gesamten Amtszeit Calderóns bei den Behörden etwa 7000 Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch Militärangehörige ein. Es sei jedoch nur in acht Fällen zu einer Verurteilung gekommen.
Das Gemetzel unter den Ärmsten Mexikos geht weiter, während die Millionäre und Milliardäre ihr Kapital außer Landes bringen ohne im Geringsten daran zu denken, dass sie dem Rest der Gesellschaft etwas schuldig sind. Dabei handelt es sich nicht um kleine Beträge: Das Geld, das die mexikanische Oberschicht in der Schweiz, in Miami, in Manhattan, der Londoner City und auf diversen kleinen Inseln hortet, würde ausreichen, um ein Mehrfaches der mexikanischen Auslandschulden zu bezahlen. Gemeinsam mit den Folgen der Globalisierung hat dies zur Folge, dass die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, zugenommen hat. Während kurz vor Calderóns Amtsantritt 2006 etwa 42,7 Prozent der Mexikaner in Armut lebten, waren es 2010 bereits 51,3 Prozent.
Die hohen sozialen Kosten, die eine Umstrukturierung der Wirtschaft im Sinne des Neoliberalismus mit sich bringt, werden von Politikern und Wirtschaftsexperten selten berücksichtigt. In Mexiko hatten sie zur Folge, dass immer mehr Menschen, die arbeitslos geworden waren oder nicht mehr vom Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Produkte leben konnten, sich gezwungen sahen, auf der Suche nach Arbeit in die Städte, in die weitgehend rechtsfreien Textilfabriken (Maquiladoras) an der amerikanischen Grenze und in die USA abzuwandern. So gaben in den ersten sechs Jahren nach dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens etwa zwei Millionen Bauern die Landwirtschaft auf. Die sich rasch entwickelnde Schattenwirtschaft verfügte nun über ein flexibles Reservoir an Arbeitskräften, die keinerlei Bedingungen stellen konnten.
Dass der Krieg gegen die Drogenbosse so viel Leid über die Bevölkerung bringt, scheint die Eliten und die Politiker wenig zu beunruhigen, denn sie halten an einer Strategie fest, deren Nachteile für die Gesellschaft ihren möglichen Nutzen bei weitem übertreffen. So teilte das Statistikinstitut der mexikanischen Regierung (INEGI) im August mit, dass von 2007 bis 2011 insgesamt 95.632 Morde in Mexiko angezeigt wurden. Einige anerkannte mexikanische Zeitungen vermuten sogar, dass seit 2006 zwischen 100.000 und 150.000 Menschen getötet wurden. Schon die im Auftrag der Regierung erhobenen Zahlen bedeuten, dass pro Tag durchschnittlich 74 Morde stattfanden, also drei pro Stunde und alle 20 Minuten einer. Solche Statistiken können wohl kaum als Erfolgsmeldungen angesehen werden.
Die Hoffnung ruht auf den neuen sozialen Bewegungen
Ein ernsthaftes Vorgehen gegen die Korruption innerhalb der Eliten Mexikos und strenge Maßnahmen gegen die Geldwäsche bei den mexikanischen, amerikanischen und britischen Banken sind dringend gefordert. Von dem Comeback der korrupten „Revolutionspartei“ PRI und ihrem telegenen Kandidaten Peña Nieto, der von den Medien lanciert wurde, ist nicht viel zu erwarten. Aber inzwischen wandelt sich die Haltung der mexikanischen Bevölkerung von passiver Resignation zu offener Empörung. So sind neue soziale Bewegungen mit viel versprechenden Initiativen entstanden.
Dazu zählen etwa die von dem Lyriker Javier Sicilia initiierte Kampagne „Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ (Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad) und „Ich bin Nummer 132“ (Yo Soy 132), eine neue Studentenbewegung mit politischen Zielsetzungen. Was die Regierung und die wirtschaftliche Elite in Bezug auf Frieden, Sicherheit und Gleichberechtigung in Mexiko vorzuweisen haben, ist beschämend und geradezu kriminell. Nur starken und gut organisierten Bewegungen der Zivilgesellschaft darf zugetraut werden, dass sie Strategien für eine bessere Zukunft Mexikos entwickeln und umsetzen können.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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