Noch nie war Erdöl so teuer wie heute – außer kurz vor dem Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise 2008. Der Preisauftrieb hat viele Auslöser: die iranischen Drohungen, die Öltransporte im Persischen Golf zu blockieren, die Gefahr eines neuen Krieges im Nahen Osten und die Unruhen in Nigeria. Manches davon könnte sich in den kommenden Monaten etwas entschärfen und die Situation an den Tankstellen würde sich vorübergehend entspannen. Doch die wesentliche Ursache der hohen Preise ist eine tiefgreifende Veränderung in der Struktur der Ölindustrie. Sie lässt sich nicht umkehren. An den hohen Ölpreisen wird sich langfristig nichts ändern.
Bei unserer Energieversorgung stehen wir am Anfang einer neuen Epoche, deren Gefahren wir noch nicht in vollem Umfang begreifen. Mit Hilfe des relativ leicht zugänglichen und deshalb preisgünstigen Erdöls – „easy oil“, wie es in der Branche heißt – war der weltweite Wohlstand in den vergangenen 65 Jahren gestiegen. Es entstanden flächendeckend städtische Siedlungen, deren Einwohner auf Autos angewiesen sind. Dieses Öl geht nun zur Neige. Zwar lagern in der Erde noch immer umfangreiche Petroleumreserven, doch sie sind schwer zugänglich und schwierig aufzubereiten – sogenanntes „tough oil“. In Zukunft werden wir dafür mehr bezahlen müssen.
Denn nicht alle Ölreserven sind gleichwertig. Manche liegen dicht an der Erdoberfläche oder in Küstennähe und sind in weiches, poröses Gestein gebettet; andere befinden sich tief unter der Erde, weit vom Festland entfernt oder im Inneren schwer zugänglicher Felsformationen. Die einen Lagerstätten sind relativ einfach auszubeuten und enthalten ein Öl mit guten Fließeigenschaften, das sich leicht verarbeiten und verwerten lässt; die anderen Öle kann man nur mit Hilfe kostspieliger und umweltgefährlicher Technologien gewinnen. Sie müssen oft aufwendig bearbeitet werden, bevor das Raffinerieverfahren beginnen kann.
Autor
Michael T. Klare
ist emeritierter Professor für Friedens- und Weltsicherheitsstudien am Hampshire College und Senior-Experte bei der Arms Control Association in Washington, D.C. Er ist Autor von Büchern wie „Blood and Oil“ und „The Race for What‘s Left: The Global Scramble for the World‘s Last Resources“.Die Internationale Energieagentur IEA lieferte 2010 in ihrem Bericht über die Perspektiven der globalen Ölversorgung weitere Hinweise auf diese Veränderung. Bei ihren Recherchen untersuchte sie die bisherige Ausbeute aus den größten aktiven Erdölfeldern, auf denen das billige Öl gewonnen wird, das weltweit noch immer den wesentlichen Teil der benötigten Energie liefert. Die Befunde waren erschreckend: Diese Ölfelder werden im Lauf der kommenden 25 Jahre vermutlich drei Viertel ihrer Produktionskapazitäten einbüßen. Damit reduzieren sich die weltweiten Öllieferungen täglich um 52 Millionen Barrel. Entweder müssen neue Ölquellen gefunden werden, um den Ausfall zu ersetzen, oder die Epoche des Erdöls wird bald zu Ende gehen. Die Weltwirtschaft könnte zusammenbrechen.
Auch in den tiefen Gewässern des Golfs von Mexiko wird wieder nach Öl gebohrt
Natürlich werden wir, wie die IEA schon im Jahr 2010 feststellte, neues Öl finden, aber dabei kann es sich nur um „tough oil“ handeln, das uns alle – und auch die Umwelt – teuer zu stehen kommen wird. Um die Bedeutung unserer zunehmenden Abhängigkeit davon zu erfassen, lohnt ein Blick auf ein paar besonders problematische und gefährdete Fördergebiete. Schauen wir uns zunächst die „schöne neue Welt“ weit draußen auf dem Meer an, wo das Öl des 21. Jahrhunderts gewonnen werden soll. Die Ölgesellschaften bohren schon seit geraumer Zeit in Offshore-Gebieten, vor allem im Golf von Mexiko und im Kaspischen Meer. Bis vor kurzem geschah das jedoch nur in relativ seichten Gewässern, die höchstens um die hundert Meter tief waren, so dass traditionelle, auf langen Stegen montierte Bohrgeräte eingesetzt werden konnten. Bohrungen in Tiefen über 300 Meter werfen ganz andere Probleme auf. Sie erfordern spezielle Bohrinseln, deren Herstellung unter Umständen mehrere Milliarden Dollar kostet.
Die „Deepwater Horizon“, die im April 2010 im Golf von Mexiko explodierte, ist ein ganz typischer Fall. Die Plattform wurde 2001 für um die 500 Millionen US-Dollar gebaut und verursachte pro Tag eine Million US-Dollar Personal- und Wartungskosten. Teilweise wegen dieser hohen Kosten wollte BP die Arbeiten an dem unrentablen Bohrloch im Ölfeld Macondo möglichst schnell beenden und die „Deepwater Horizon“ an einen anderen Ort bringen. Diese finanziellen Erwägungen sind laut Experten der Grund dafür, dass die Besatzung der Bohrinsel das Bohrloch zu eilig versiegelte, so dass entzündliche Gase austraten und eine Explosion verursachten. BP muss nun für die gesamten Schäden mehr als 30 Milliarden Dollar bezahlen.
Nach der Katastrophe beschloss die US-Regierung ein vorläufiges Moratorium für Tiefseebohrungen. Doch kaum zwei Jahre später wird in den tiefen Gewässern des Golfs von Mexiko wieder im gleichen Umfang gebohrt wie zuvor. Außerdem unterzeichnete Präsident Barack Obama ein Abkommen mit Mexiko, das Bohrungen an den tiefsten Stellen des Golfs entlang der Seegrenze zwischen den USA und Mexiko genehmigt. Auch anderswo wird wieder vermehrt in der Tiefsee gebohrt. Brasilien schickt sich an, seine unter einer instabilen Salzschicht gelegenen sogenannten Pré-Sal-Felder weit vor der Küste von Rio de Janeiro anzuzapfen. Auch in den tiefen Gewässern vor Ghana, Sierra Leone und Liberia werden neue Offshore-Gebiete erschlossen.
Laut dem Energieexperten John Westwood müssen solche Ölfelder, deren Erträge 1995 nur einen Anteil von einem Prozent an den weltweiten Lieferungen ausmachten, bis 2020 zehn Prozent des Gesamtbedarfs decken. Ihre Erschließung wird in den meisten Fällen zwei- und dreistellige Milliardenbeträge kosten, und sie werden sich nur dann als rentabel erweisen, wenn ein Fass Öl weiterhin mindestens 90 US-Dollar kostet. Die Erschließung der brasilianischen Offshore-Vorkommen, die manche Experten für den hoffnungsvollsten Ölfund dieses Jahrhunderts halten, wird besonders kostspielig, denn sie sind von ca. 2000 Metern Wasser und von bis zu 5000 Metern Sand, Gestein und Salz bedeckt. Hier ist die modernste und teuerste Bohrausrüstung der Welt gefragt, die sich teilweise noch in der Entwicklung befindet. Das halbstaatliche Energieunternehmen Petrobras hat für das Projekt bereits 53 Milliarden US-Dollar für den Zeitraum von 2011 bis 2015 zugesagt. Die meisten Experten halten das für eine bescheidene Anzahlung auf die gewaltigen Kosten, die am Ende zusammenkommen werden.
In den kanadischen Teersanden ist soviel Öl enthalten wie in 1,7 Billionen Barrel des konventionellen flüssigen Öls
Auch von der Arktis erhofft man sich einen bedeutenden Beitrag zur Ölversorgung der Zukunft. Bis vor kurzem wurde im hohen Norden nur wenig Öl gefördert. Mit Ausnahme der Prudhoe Bay in Alaska und einigen Ölfeldern in Sibirien haben die meisten Konzerne die Region gemieden. Doch angesichts fehlender Alternativen bereiten sie sich auf einen Vorstoß in die wärmer werdende Arktis vor. Sie gehört in jeder Hinsicht zu den letzten Orten, an denen man freiwillig nach Öl bohren würde. Unwetter sind häufig, und im Winter sinken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt. Zum großen Teil funktioniert die übliche Ausrüstung unter diesen Bedingungen nicht und muss durch teures Spezialgerät ersetzt werden. Die Bohrmannschaften können nicht über längere Zeit in der Region leben. Die Lebensmittel, Treibstoff und Baumaterialien müssen zu enormen Kosten über tausende von Kilometern herbeigeschafft werden.
Und doch bietet die Arktis Milliarden Barrel an ungenutztem Öl. Laut der amerikanischen Landschaftsbehörde United States Geological Survey (USGS) sind in dem Gebiet nördlich des Polarkreises, das nur sechs Prozent der Erdoberfläche ausmacht, etwa 13 Prozent des verbliebenen Öls gespeichert. Da kann keine andere Region mithalten. Weil es kaum noch andere Möglichkeiten gibt, rüsten sich die großen Energieunternehmen für einen Wettlauf um die Ausbeutung der Bodenschätze der Arktis. In diesem Sommer soll Royal Dutch Shell mit Probebohrungen in der Beaufort- und der Tschuktschensee nördlich von Alaska beginnen. Gleichzeitig planen Statoil und andere Unternehmen umfangreiche Bohrungen in der Barentssee im Norden von Norwegen.
Wie immer, wenn Energie unter extremen Bedingungen gewonnen wird, wird auch die vermehrte Produktion in der Arktis die Betriebskosten der Ölgesellschaften beachtlich in die Höhe treiben. Shell hat alleine für die Vorbereitung der Offshore-Probebohrungen in Alaska bereits vier Milliarden Dollar ausgegeben, ohne auch nur ein einziges Fass Öl zu produzieren. Mit der kompletten Erschließung dieser ökologisch labilen Gegend, gegen die sich Umweltschützer und die indigenen Völker der Region heftig zur Wehr setzen, würden diese Kosten um ein Vielfaches zunehmen.
Einen weiteren wichtigen Teil der künftigen Ölversorgung sollen die kanadischen Teersande (auch Ölsande genannt) und das schwere Rohöl in Venezuela liefern. In beiden Fällen handelt es sich nicht um Öl im üblichen Sinne. Da sie im Naturzustand nicht flüssig sind, können sie nicht mit traditionellen Bohrverfahren gefördert werden. Laut USGS ist in den kanadischen Teersanden soviel Öl enthalten wie in 1,7 Billionen Barrel des konventionellen flüssigen Öls, während in den Schwerstöl-Lagerstätten Venezuelas eine weitere Billion Barrel gespeichert sein soll. Allerdings können diese Reserven mit den derzeit verfügbaren technischen Mitteln nicht vollständig genutzt werden.
Die kanadischen Teersande wurden bisher mit riesigen Baggern im Tagebau gefördert, die eine Mischung aus Sand und Bitumen aus dem Boden schaufelten. Doch in der Provinz Alberta sind die an der Oberfläche gelegenen Bitumenreserven jetzt weitgehend erschöpft, und in Zukunft wird der Abbau sehr viel schwieriger werden. In die tiefer gelegenen Teerschichten muss Dampf eingeleitet werden, um das Bitumen zu schmelzen, damit es anschließend mit gewaltigen Geräten herausgepumpt werden kann. Das verschlingt viel Energie, und zudem müssen Aufbereitungsanlagen für die giftigen Rückstände gebaut werden. Nach Auskunft des Canadian Energy Research Institute würde die vollständige Erschließung der Ölsande in Alberta über die nächsten 25 Jahre eine Investition von mindestens 218 Milliarden US-Dollar voraussetzen. Dabei sind die Kosten für den Bau von Rohrleitungen in die USA, die das Rohöl in amerikanische Raffinerien befördern sollen, noch gar nicht mitgerechnet.
Die Erschließung des Schwerstöls in Venezuela wird Investitionen ähnlichen Umfangs erfordern. Im Orinoco-Gürtel, wo es am Fluss entlang besonders stark konzentriert ist, soll es förderbare Reserven von 513 Milliarden Barrel geben und damit vielleicht das größte ungenutzte Erdölvorkommen der Erde. Doch die Umwandlung dieser gallertigen Form von Bitumen in ein nutzbares leichtflüssiges Öl überschreitet die technischen und finanziellen Möglichkeiten der staatlichen Ölgesellschaft Petróleos de Venezuela bei weitem. Deshalb sucht sie jetzt nach ausländischen Partnern, die bereit sind die zehn bis 20 Milliarden US-Dollar zu investieren, die bereits für den Bau der notwendigen Anlagen gebraucht werden.
Wollen wir dieses Öl überhaupt, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken?
Reserven wie diese werden in den kommenden Jahren den größten Teil des neu gefundenen Öls liefern. Eines ist klar: Selbst wenn sie uns einen Ersatz für das billige Öl bieten können, wird alles teurer werden, wofür Öl gebraucht wird – Benzin, Kunstdünger und viele andere aus Erdöl gewonnene Produkte, die unseren Alltag bestimmen. Daran müssen wir uns gewöhnen. Wenn alles so weitergeht wie geplant, bleiben wir noch jahrzehntelang von den großen Ölfirmen finanziell abhängig.
Und das Ganze wird auf Kosten der Umwelt gehen. Wie die Katastrophe der „Deepwater Horizon“ zeigt, wird die Ölförderung in der Tiefsee und in anderen extremen Lagen die Ökosysteme immer stärker gefährden. Schließlich flossen dank der Nachlässigkeit von BP etwa fünf Millionen Barrel Öl in den Golf von Mexiko und fügten den Meerestieren und den küstennahen Lebensräumen schweren Schaden zu. Und dabei ereignete sich das Desaster in einer Region, in der die Ölpest wirkungsvoll bekämpft werden und das Ökosystem sich relativ gut regenerieren konnte. In der Arktis und in Grönland herrschen ganz andere Bedingungen. Hier würde es ein Vielfaches kosten, die Folgen einer massiven Ölpest zu beseitigen, und der Erfolg wäre weit geringer.
Viele der aussichtsreichsten „tough oil“-Felder liegen ferner in Russland, am Kaspischen Meer oder in den Konfliktregionen Afrikas. Wenn Ölkonzerne dort operieren wollen, müssen sie zusätzliche Kosten in Kauf nehmen, die etwa durch Schmiergeldzahlungen und Erpressung, Sabotage durch Guerillagruppen und die Auswirkungen sozialer Unruhen entstehen. Und schließlich darf man das Wichtigste nicht vergessen: Wenn uns die schwierigsten Regionen des Planeten tatsächlich all diese Barrel Öl und andere öl-ähnlichen Stoffe liefern, werden wir noch jahrzehntelang fossile Brennstoffe verbrauchen und damit immer mehr Treibhausgase freisetzen, als ob es kein Morgen gäbe.
Dies ist die traurige Wahrheit: Wenn wir uns für „tough oil“ entscheiden, statt die dafür nötigen Beträge in alternative Energien zu investieren, verbauen wir uns womöglich die letzte Hoffnung, die schlimmsten Auswirkungen eines wärmeren und konfliktreicheren Planeten von uns abzuwenden. Ja, es gibt noch Öl. Doch billiger wird es nicht, so viel es auch sein mag. Und die Ölgesellschaften können es für uns beschaffen. Aber wollen wir dieses Öl überhaupt, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken?
Aus dem Englischen von Anna Latz.
Der Artikel ist zuerst auf der Website www.TomDispatch.com erschienen. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
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