Die Agrarwende, die den Regenwald schont

Ein Farmer entlädt in Santa Cruz do Rio Pardo im Süden des Cerrado geerntete Sojabohnen in einen Lastwagen.
Patricia Monteiro/Bloomberg via Getty Images
Ein Farmer entlädt in Santa Cruz do Rio Pardo im Süden des Cerrado geerntete Sojabohnen in einen Lastwagen.
Entwaldung
In Brasilien ging Landwirtschaft jahrzehntelang mit Abholzung einher. Diese Zeiten sind vorbei, heute steigt die Agrarproduktion nicht mehr auf Kosten des Waldes. Das sollten auch Kritiker des Handelsabkommens der EU mit dem Mercosur verstehen.

Die Zerstörung des tropischen Regenwaldes gilt als zentrales Argument gegen die brasilianische Landwirtschaft und das Handelsabkommen mit dem Mercosur. Zu Unrecht: Die für Soja genutzten Flächen in Brasilien haben sich von 2001 bis 2024 von 16 auf 47 Millionen Hektar verdreifacht, während die Abholzung des Tropenwaldes im gleichen Zeitraum stark geschwankt hat. 2004, kurz nachdem Präsident Lula da Silva seine erste Präsidentschaft angetreten hatte, ging sie für zehn Jahre stark zurück. Als Brasilien dann eine schwere wirtschaftliche Krise traf, stieg sie wieder an, vor allem nach dem Amtsantritt von Präsident Jair Bolsonaro im Jahr 2019. 

Grund für das Auf und Ab war in erster Linie die Politik: Zuerst hielten die Regierungen den Waldschutz hoch, unter Bolsonaro wurde er radikal abgebaut. Spätestens seit dem erneuten Amtsantritt von Lula 2023 sinkt die Entwaldung wieder. Kurz: Seit mehr als 20 Jahren ist die Landwirtschaft nicht mehr der Treiber für Tropenwaldzerstörung. 

Es gibt noch Reste der alten, auf Naturzerstörung basierenden Landwirtschaft, aber der Regenwald hat heute gefährlichere Feinde. Im Amazonas ist mittlerweile zu einem guten Teil das organisierte Verbrechen für die – insgesamt sinkende – Entwaldung verantwortlich. Zwei Mafia-Organisationen üben in vielen Amazonasregionen faktisch territoriale Herrschaft aus. Hunderte illegale Flugpisten und moderne Waffen jeder Größe dienen dem Handel mit Drogen. Die gewaltsame Aneignung öffentlichen Landes einschließlich Entwaldung gehört dazu, außerdem die Ausbeutung von Minen, der Verkauf von Tropenholz sowie zunehmend auch der Handel mit legalen Produkten wie Treibstoff oder Zigaretten. Wer diesen Geschäften direkt oder indirekt im Wege steht, muss mit Gewalt rechnen: indigene Gemeinden, lokale Betriebe, Umweltschützer, Gewerkschafter. 

Mafiöse Gewaltstrukturen

Wer trotzdem weiterhin die Landwirtschaft für die Entwaldung verantwortlich macht, verharmlost die kriminellen Ursachen der Umweltprobleme. Und verkennt den gigantischen politischen, polizeilichen oder gar militärischen Aufwand, den der Staat betreiben muss, um die mafiösen Gewaltstrukturen zu bekämpfen. 

Zudem wird bei einem Fokus auf die Landwirtschaft übersehen, dass der Amazonas neue wirtschaftspolitische Konzepte benötigt, die auch den urbanen Raum in den Blick nehmen. Vier von fünf Einwohnern dieser Region leben in Städten. Dort fehlen Millionen vernünftig bezahlte Jobs. Nur gute Beschäftigung wird der illegalen Entwaldungsökonomie strukturell den Boden entziehen. Hohe private und öffentliche Investitionen sind nötig, um in der Amazonasregion eine breite Wirtschaftsentwicklung zu stimulieren, die auf Technologie setzt, mehr Wertschöpfung schafft und höhere Einkommen ermöglicht als mit dem Anbau von Açaíbeeren oder Paranüssen. 

Sicherheitskräfte des brasilianischen Umweltschutzinstituts IBAMA verhaften im Bundesstaat Roraima im Amazonas einen Arbeiter einer ­illegalen Goldmine. In der Region ist das indigene Volk der Yanomami heimisch.

Saure Böden wurden zu fruchtbarem Ackerland

In Brasilien hat in den vergangenen 20 Jahren eine Agrarwende stattgefunden, die das Wachstum der Landwirtschaft von der Entwaldung entkoppelt. Das war früher anders. „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ – das war das Motto, mit dem der Aufstieg der brasilianischen Landwirtschaft vor gut 50 Jahren begann. Entlegene Regionen sollten besiedelt und die Landwirtschaft entwickelt werden. Vorgeschrieben war damals die Abholzung von mindestens der Hälfte des vom Staat an Landwirte zugewiesenen Landes. Das staatliche Agrarforschungsinstitut EMBRAPA entwickelte Sorten, die an die neuen Standorte angepasst waren. EMBRAPA machte Soja und andere Nutzpflanzen „tropentauglich“ und revolutionierte in wenigen Jahrzehnten die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der tropischen Landwirtschaft. 

Autor

Ingo Melchers

ist Agraringenieur mit Spezialisierung auf Tropen und Subtropen. Er leitete bis März 2024 im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums den Agrarpolitischen Dialog zwischen Deutschland und Brasilien.

Die Expansion erfolgte von Süden nach Norden in die Savannen des Cerrado und in den Amazonas. Um den Eigentumsanspruch auf das Land aufrechtzuerhalten, mussten die Bauern das gerodete Land nutzen, meist als Viehweide. Denn es war leicht, Rinder zu halten und vor Ort zu verkaufen, der weit überwiegende Anteil der brasilianischen Fleischproduktion war immer schon und ist bis heute auf den Binnenmarkt gerichtet. Im Cerrado waren die Böden extrem sauer, also landwirtschaftlich nutzlos. Als dies durch starke Kalkung reguliert werden konnte, wurden Millionen Hektar Cerradosavanne zerstört – und saure Böden zu fruchtbarem Ackerland. 

Bäuerlich geprägte Nachkommen deutscher, polnischer, italienischer und japanischer Einwanderer aus dem Süden Brasiliens haben diese Expansion seit den 1970er Jahren vorangetrieben. Es war kein Zufall, dass auch die Landlosenbewegung MST 1984 genau hier ihren Ursprung hatte. Denn der Süden war schon Jahrzehnte vorher zu klein geworden für die verzweifelt nach Land suchenden Nachkommen der Einwanderer.

Als der Amazonas und der Cerrado landwirtschaftlich interessant wurden, konnten Kleinbauern und Landlose ihren Traum wahrmachen und ihr eigenes Land bearbeiten. Die bäuerlichen Pioniere aus dem Süden – Gauchos, also Leute aus Rio Grande do Sul – sind bis heute stolz darauf, eine international wettbewerbsfähige tropische Landwirtschaft aufgebaut zu haben: „Als wir hier ankamen, gab es nur Wald.“ Man darf ihnen abnehmen, dass sie Risiken und Jahre großer Entbehrungen in Kauf nahmen. Sie verfügten über ein spezifisches Arbeitsethos, über Unternehmergeist und einen starken bäuerlichen Willen, aus ihrem Land etwas herauszuholen. Aus den Nachkommen der europäischstämmigen Kleinbauern wurden große Farmer. Sie ähneln heute in Betriebsführung, aber auch in der politischen Identität den konservativen Farmern in den USA. Es war also nicht so, dass eine traditionelle Landoligarchie sich in eine findige Unternehmerschaft gewandelt hätte. Das historische Latifundium (Großgrundbesitz) hat sich nicht in einen agrarkapitalistischen Betrieb verwandelt. Die EMBRAPA lieferte die neuen Sorten, aber es waren die bäuerlichen Gauchos, die den mittleren Westen kolonisierten und wirtschaftlich umkrempelten. 

Brasilianische Agrarstruktur ist sehr ungleich

Neben der starken Abholzung gibt es einen anderen Aspekt, der dieser Erfolgsgeschichte einen negativen Beigeschmack verleiht: Sie startete während der brasilianischen Diktatur und folgte ihrem Programm der „konservativen Modernisierung“. Die brasilianische Agrarstruktur war spektakulär ungleich und ist es heute noch. Viele Betriebe haben heute mehrere Tausend Hektar Land, während die indigenen Gemeinden und die lokalen Betriebe oft das Nachsehen hatten. Sie kamen nicht mit, hatten selten den gleichen unternehmerischen Spirit, verkauften ihr Land billig an die Gauchos und fanden in den wachsenden Städten andere Jobs. Die beeindruckende technische und ökonomische Umwälzung in der Landwirtschaft hat nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit geführt. Manche Kritiker der brasilianischen Landwirtschaft fordern daher statt der technischen und ökonomischen Modernisierung die Umverteilung von Land. Nach 1945 hatte es einige wenige historische Fenster für eine umfangreiche Agrarreform gegeben, doch die politischen Kräfte reichten nie aus. In einer fast zu 90 Prozent urbanisierten Gesellschaft stellt sich heute die Frage, ob der wichtigste Impuls für mehr Gerechtigkeit wirklich aus dem Agrarsektor kommen kann; er macht nur noch fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Von Beginn an aber haben nicht nur die Großfarmen, sondern auch kleine Betriebe bei der Abholzung mitgewirkt. Allein die Ansiedlungen im Rahmen der Agrarreform waren in der Vergangenheit im Amazonas verantwortlich für 24 Prozent der gesamten Entwaldung. Die brasilianische Regierung will nun 40 Millionen Hektar degradierte Flächen wieder in eine nachhaltige Nutzung überführen. Das ist nicht nur Sache der Großfarmer, sondern eine nationale Aufgabe. 

Der brasilianische Waldschutz ist heute schärfer

Das traditionelle Modell der Bodennutzung kann als Agrarextraktivismus bezeichnet werden. Der Boden wurde „abgebaut“, fast wie ein Rohstoff. Es wurde abgeholzt, die Viehweiden wurden nicht gepflegt und nur von sehr wenigen Tieren genutzt. Nach wenigen Jahren verholzten die Flächen, der Boden verarmte und mit ihm Menge und Qualität des Futters. Wie im Amazonas wurde auch in der Savanne des Cerrado einfach weiteres Land gerodet, denn das war billiger, als in Bodenfruchtbarkeit zu investieren. 

Dieser Agrarextraktivismus ist aber längst an seine Grenzen gestoßen. Der brasilianische Waldschutz ist heute schärfer, die Kontrolle engmaschiger. Die Zentralbank hält nach, ob die Geschäftsbanken die umweltrechtlichen Vorgaben beachten, bevor sie Agrarkredite auszahlen. Auch die großen Agrarkonzerne und Agrarhändler machen Druck auf Landwirte, weil sie ihrerseits unter öffentlichem Druck stehen. Kurz: Die Kosten der illegalen Abholzung werden unkalkulierbar.

Der Agrarextraktivismus geht zu Ende

Regional stellt sich das zwar unterschiedlich dar. So gilt an abgelegenen Standorten im Amazonas und im Cerrado das eigentlich sehr restriktive Waldgesetz oft nur eingeschränkt. Wo aber in Marktnähe Infrastruktur für Transport, Verarbeitung und Lagerung vorhanden ist und sich Absatz- und Beschaffungsmärkte festigen, gelten heute striktere Regeln als früher. Auch die meisten Söhne und Töchter jener Pioniere aus dem Süden sind heute anders sozialisiert als ihre Väter. Laut Waldgesetz müssen sie – je nach ökologischer Zone – mindestens 20 Prozent ihrer Fläche unberührt lassen; im Amazonas sind es sogar 80 Prozent. Vor einem halben Jahrhundert war die allgemeine Erwartung noch, dass die Landwirte stark abholzen, um das Land zu entwickeln. Heute müssen sie dagegen im Amazonas mindestens 80 Prozent der Flächen stehenlassen. Im Cerrado dürfen bis zu 65 Prozent genutzt werden. Zum Vergleich: In der EU galt die Flächenstilllegung bis 2024 nur für vier Prozent. Auf der ganzen Welt gibt es wohl nur wenige Landwirte, die verpflichtende Flächenstilllegungen lieben. Aber die allermeisten von ihnen halten sich an die Gesetze, auch in Brasilien. 

Im Cerrado sind Motive und Entwaldungsdynamik anders als im Amazonas, aber sogar in den problematischsten Regionen sinkt auch hier seit Jahren das Entwaldungsrisiko. Das Forschungsinstitut TRASE hat zwar für das Jahr 2022 wieder einen Anstieg ermittelt, doch die enorme Sojaexpansion der letzten 15 Jahre erfolgt immer weniger zulasten der nativen Vegetation und stattdessen auf Flächen, die vorher schon entwaldet waren, etwa Rinderweiden. Aus den Angaben von TRASE vom Januar 2025 kann geschlossen werden, dass zwischen 2020 und 2022 knapp vier Prozent der zusätzlichen Sojaflächen aus kürzlicher Entwaldung stammten. Das ist nicht nichts, aber 2022 – daran sei erinnert – war das letzte Amtsjahr von Präsident Bolsonaro. Ab 2023 dürfte sich auch im Cerrado die Tendenz wieder verbessern. Der Agrarextraktivismus geht zu Ende, auch im Cerrado. 

Noch günstiger sieht es im Amazonas aus: Zwischen 2006 und 2018 stieg hier die Fläche für Soja von gut einer Million auf fünf Millionen Hektar. Nur gut ein Prozent davon stammen aus kurz davor entwaldeten Flächen. Sogar die Degradation der Weideflächen nimmt generell ab. Anders als früher investieren die Rancher in die bestehenden Flächen, sie düngen sie und säen Weidegräser neu aus. Damit werden pro Hektar durchschnittlich nicht mehr nur 0,5 Rinder gehalten, sondern zwei oder drei. Das landwirtschaftliche Motiv der Entwaldung fällt weg: Zusätzliche Weideflächen sind nicht mehr nötig, denn nun können vier bis sechsmal so viele Tiere auf der gleichen Fläche gehalten werden. Im Ackerbau ist es ähnlich: Der Sojaertrag pro Hektar stieg in 20 Jahren von 2500 Kilo auf über 3500 Kilo.

EU sollte Mercorsur-Abkommen zügig verabschieden

Der traditionelle Agrarextraktivismus wird in Brasilien von einer modernen und sogar klimagerechten tropischen Landwirtschaft abgelöst. Anders als in Deutschland übersetzt sich Nachhaltigkeit in Brasilien nicht in niedrigere, sondern höhere Intensität der Bodennutzung. Klimagerechte Praktiken, permanente Bodenbedeckung, Direktsaat, Minderung des Methanausstoßes in der Rinderhaltung, zwei volle Ernten pro Jahr sowie die Integration von Tierhaltung, Ackerbau und Forsten auf der gleichen Fläche – das sind einige Merkmale der brasilianischen Agrarwende. Das Land buchstabiert das Konzept einer nachhaltigen Intensivierung für die tropischen und subtropischen Standorte weiter aus: nachhaltig und zugleich mehr auf der gleichen Fläche produzieren, um andere Flächen zu schützen und die Entwaldung zu stoppen. Produktivität und Waldschutz sind gleichermaßen Ziel und Politik der Regierung. 

Einer Koalition aus NGOs und Bauernvertretungen in Europa ist es lange gelungen, die öffentliche Meinung zum Abkommen der Europäischen Union mit dem Mercosur zu prägen: Mehr Agrarhandel bedeute mehr Landwirtschaft, und beides sei verantwortlich für die Entwaldung. Dieses Argument hat in Brasilien keine Grundlage mehr. Darüber hinaus benötigt Europa in der global sehr komplexen Lage heute mehr denn je belastbare Allianzen und Kooperationen, am besten mit demokratischen Nationen im globalen Süden. Gemeinsam verhandelte Lösungen sind angesagt, nicht mehr einseitig gesetzte und normativ aufgeladene Sanktionen.

Der brasilianische Präsident Lula da Silva hat Europa „grünen Neokolonialismus“ vorgeworfen. Das zeigt: In der südlichen Hemisphäre wird es schwieriger, die Zusammenarbeit mit einem Europa zu verteidigen, das mit dem erhobenen Zeigefinger verhandelt. Dialog auf Augenhöhe heißt auch, andere Interpretationen von Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft anzuerkennen und zu respektieren. Klima- und Umweltschutz erfolgt im Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft – in Deutschland und auch in Brasilien – nicht durch Androhung von Sanktionen von außen. Das Europaparlament und die EU-Mitgliedsstaaten sollten das Abkommen mit dem Mercosur nun zügig verabschieden. Oder wird es doch noch auf Druck links- und rechtsnationalistischer Kräfte und wegen protektionistischer Interessen kleiner Minderheiten scheitern? Das wäre eine unverzeihliche politische Dummheit Europas. 

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Schiff aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!