„Was würde wohl passieren, wenn wieder eine schwarze Politikerin wie Marielle Franco ermordet würde?“, fragt sich Matheus Miranda. Der Politikwissenschaftler, der bei einer nichtstaatlichen Organisation arbeitet, befürchtet: „Es würde weniger Aufmerksamkeit erregen als damals.“ Brasilien scheint ihm unfähig, sich mit staatlicher Gewalt auseinanderzusetzen: „Es ist, als gäbe es kein Recht auf Erinnerung. Wir haben die Militärdiktatur nicht aufgearbeitet und auch nicht die Verbrechen des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Und ich fürchte, wir werden auch diesen Fall nicht wirklich aufklären.“
Das beginne schon damit, dass der Prozess gegen die beiden ehemaligen Militärpolizisten erst sechs Jahre nach der Tat verhandelt wurde – und dann wie ein gewöhnlicher Mord und nicht wie ein politisches Verbrechen. Am 31. Oktober 2024 wurden die beiden schließlich wegen des Mordes an der Stadträtin Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes im März 2018 zu 78 Jahren beziehungsweise 59 Jahren Haft verurteilt.
„Marielle wurde zum Symbol des Widerstands“
„Den Prozess zu sehen war eine Mischung aus Schmerz und Hoffnung“, erklärt Produktmanagerin Camila Galindo. Wie Miranda glaubt allerdings auch sie, dass seit dem Geständnis der Attentäter die öffentliche Empörung über den Fall nachgelassen hat, weil viele fänden, der Gerechtigkeit sei damit Genüge getan. „Die Wahrheit ist jedoch, dass das Streben nach Gerechtigkeit jetzt erst beginnt.“ Denn im Prozess wurden etliche politische Köpfe beschuldigt, Drahtzieher des Verbrechens zu sein: der Abgeordnete Chiquinho Brazão, der Staatsrechnungsprüfer Domingos Brazão, der Vertreter der Zivilpolizei Rivaldo Barbosa (der zeitweise sogar für die Ermittlungen zuständig war), Major Ronald Paulo Pereira und der Offizier der Militärpolizei Robson Calixto Fonseca. Marielle Franco hatte sich im Stadtrat gegen Milizionäre und Landräuber gestellt und sich für den Bau bezahlbaren Wohnraums eingesetzt. Laut einer im März 2024 veröffentlichten Untersuchung der brasilianischen Bundespolizei war das das Hauptmotiv für ihre Ermordung.
Seitdem sind die Rufe „Wer hat den Mord an Marielle und Anderson befohlen?“ und „Gerechtigkeit für Marielle und Anderson“ bei allen Veranstaltungen und Protesten zu hören, die von progressiven Gruppen in Brasilien organisiert werden. Ihr Gesicht ziert noch immer T-Shirts, Flaggen und Graffiti in den großen Städten Brasiliens, Straßen und Plätze wurden nach ihr benannt, und Persönlichkeiten wie Pink-Floyd-Gründer Roger Waters, das Model Naomi Campbell, die Sängerin Katy Perry und die Schauspielerin Viola Davis haben Marielle gewürdigt. „Es war nicht nur ein Angriff auf eine Frau, sondern auch auf die Tausenden von Menschen, die für sie gestimmt haben, und auf das, wofür sie stand. Marielle wurde zu einem Symbol des Widerstands“, betont Camila Galindo.
Neue Hoffnung auf Gerechtigkeit
Und der Anwalt Danilo dos Santos fügt hinzu: „Wir leben in einem Land, in dem das Leben leider sehr wenig wert ist. Allein bei den diesjährigen Kommunalwahlen gab es laut einer Untersuchung der Universität von Rio de Janeiro 338 Angriffe auf Kandidaten, von denen 33 mit Mord endeten.“
Bei aller Kritik hat der Prozess gegen die Mörder von Marielle Franco und Anderson Gomes neue Hoffnung auf Gerechtigkeit geweckt. „Ihr Kampf und unser Kampf dafür, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät, können neue Generationen inspirieren, hartnäckig zu bleiben und daran zu glauben, dass es möglich ist, die Realität zu verändern“, träumt die Geografin Camila Franco, die wie Tausende andere Brasilianer denselben Nachnamen wie die ermordete Stadträtin trägt.
Neuen Kommentar hinzufügen