Im April wurde eine Klage von Umweltschützern gegen die Umleitung des Rio Xingu im Gliedstaat Para gutgeheißen. Damit wurde das Projekt des drittgrößten Wasserkraftwerks der Welt suspendiert. Ist es damit erledigt?
Die nationalen und transnationalen Firmen, die hinter dem Wasserprojekt stehen, versuchen, die Entscheidung des Gerichts anzufechten. Höchstwahrscheinlich wird die Regierung ihr Projekt schließlich durchsetzen. Präsident Lula da Silva steht den großen Konzernen im Wassergeschäft wohlwollend gegenüber und hört kaum auf Klagen aus der Zivilgesellschaft. Lula wurde von den Armen gewählt, regiert jetzt aber für die Reichen. Aus diesem Grund brauchen wir für unseren Widerstand gegen diese Projekte internationale Unterstützung. Denn die Regierung reagiert eher auf Vorwürfe aus dem Ausland.
Ihr Engagement begann bereits 1992 mit einer einjährigen Wallfahrt am Rio Sao Francisco. Was war damals der Anlass?
Als ich vor 36 Jahren an den Fluss zog, um dort zu leben, entdeckte ich den Rio Sao Francisco in seiner ganzen Bedeutung. In der halbtrockenen Region des Nordostens ist er die wichtigste Lebensversicherung der Bevölkerung. Er liefert das Trinkwasser, sichert die Bewässerung der Pflanzen und bietet den Fischen Lebensraum. Ohne diesen Fluss wäre die Gegend eine Wüste. Wir wollten einen Dialog aufbauen mit den Menschen, die dort leben, und aufzeigen, dass der Fluss in seiner Existenz bedroht war. Wir wollten zusammen für seinen Erhalt kämpfen.
Wodurch wurde der Fluss bedroht?
Große Landwirtschaftsunternehmen rodeten bereits in den 1970er Jahren Teile des Waldes am Fluss und schafften Monokulturen, etwa von Eukalyptus, der besonders viel Wasser benötigt. Nur fünf Prozent des ursprünglichen Waldes ist erhalten geblieben. Der Rio Sao Francisco nährt sich aus Grundwasser. Dieses wird von den Monokulturen angezapft. Außerdem wird dem Fluss viel Wasser entnommen, um die Monokulturen zu bewässern. In Brasilien ist nicht gesetzlich geregelt, wer einem Fluss wie viel Wasser entnehmen darf. Wer Geld und Macht hat, kann so viel nehmen, wie er will. Außerdem bedrohen ungefilterte Abwässer den Fluss, ebenso wie Staudämme, weil sie erstens den natürlichen Flusslauf unterbrechen und zweitens auf ihrer großen Oberfläche das Wasser schneller verdunstet. In meiner Region ist das Verhältnis zwischen Wasserzufluss und -abfluss eins zu zehn. Einst konnte man den ganzen Flusslauf mit einem Boot befahren. Das geht heute nicht mehr, weil er nicht tief genug ist.
Trotzdem begann die Regierung 2005, Wasser des Rio Sao Francisco umzuleiten. Welche Konsequenzen hat das?
Das ist das schlimmste von allen Projekten. Es werden zwei Kanäle gebaut, die das Wasser des Flusses 700 Kilometer ins Innere der nordöstlichen Region Brasiliens führen sollen, um die Bewässerung der großen Agrikulturen sicherzustellen. Es geht um den Anbau von Zuckerrohr in Monokultur zur Gewinnung von Ethanol sowie um die Produktion und Export von Crevetten und Zitrusfrüchten, ein rentables Geschäft. Offiziell begründet die Regierung die Umleitung damit, dass sie die bedürftigen Menschen in dieser Region mit Wasser versorgen wolle. Denn laut unserer Verfassung muss das Wasser zuerst der Bevölkerung zur Verfügung stehen, erst an zweiter Stelle der Landwirtschaft. Die Umleitung kostet den Staat, also uns alle, umgerechnet rund neun Milliarden Euro. Einer solchen staatlichen Investition sollte eine breite Diskussion mit der Zivilgesellschaft vorausgehen. Das hat die Regierung verhindert. Ich habe dagegen mit Hungerstreiks gekämpft. Es sind noch zwei Klagen gegen das Projekt bei Gericht anhängig. Trotzdem werden die Bauarbeiten fortgesetzt.
Sie praktizieren seit über 20 Jahren gewaltfreien Widerstand gegen die Ausbeutung und Privatisierung der Wasserressourcen in Brasilien. Was haben Sie erreicht?
Mit der Wallfahrt von 1992 konnten wir das Bewusstsein für die Problematik in der Bevölkerung wecken. Diese Aktion hat das Verhältnis der Menschen zu ihrem Lebensraum am Fluss verändert. Weiter hat unser Kampf das Problem dieses Flusses in Brasilien und international sichtbar gemacht. Die unter der Regierung Lula geschwächten sozialen Bewegungen in Brasilien haben sich zusammengeschlossen und treten heute wieder stärker auf – auf Universitätsebene, bei den Ureinwohnern und in nichtstaatlichen Organisationen (NGO). Nur die Regierung ist von all dem unberührt geblieben, wegen der starken Lobby der nationalen und internationalen Unternehmen.
Sie haben sich auch gegen Investitionen des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Nestlé zur Wehr gesetzt. Warum?
Nestlé ist seit den 1940er Jahren in Brasilien tätig. 1992 hat der Konzern den Park von São Lourenço gekauft und produziert seit 2000 dort sein Mineralwasser Pure Life. São Lourenço ist eine kleine Region, die hauptsächlich vom Tourismus lebt. Der Park hatte verschiedene Mineralquellen, er funktioniert wie eine Naturapotheke. Nestlé hat eine Abfüllanlage innerhalb des Parks gebaut. Das verstößt gegen das Gesetz, weil das eine geschützte Region ist. Sie entnahmen große Mengen Grundwasser. Dies beeinflusste die Qualität des Wassers. Die Geschmacksunterschiede verschwanden. Das Wasser braucht Zeit, um die Minerale in der Erde aufzunehmen. Es wurde schneller heraufgepumpt, als die Natur die Minerale ersetzen konnte. Als die Leute das bemerkten, fühlten sie sich betrogen. Sie suchten den Dialog mit Nestlé, doch der scheiterte.
Wie konnten Sie Nestlé 2006 schließlich stoppen?
Dank der Kampagne hier in der Schweiz. Die Kirchen, Attac und die Erklärung von Bern haben uns geholfen. Die Schweizer Presse informierte intensiv über den Fall, das Schweizer Fernsehen schickte sogar ein Team nach Brasilien und machte einen Dokumentarfilm, der hier gezeigt wurde. Dies schadete dem Image von Nestlé in der Schweiz. Deshalb baten die Nestlé-Anwälte 2006 um eine öffentliche Einigung und stoppten die Produktion von Pure Life.
Der Widerstand gegen Nestlé hat den Anstoß gegeben, dass sich die brasilianischen und die Schweizer Kirchen zusammengetan haben, um die ökumenische Wassererklärung zu unterzeichnen. Darin wird die Anerkennung von Wasser als öffentliches Gut und Menschenrecht gefordert. Was hat die Erklärung gebracht?
Sie ist ein äußerst wichtiges und aktuelles Dokument, das grundlegende Fragen berührt. Ohne Wasser gibt es kein Leben, es stellt die Lebensqualität sicher. Das Dokument sollte allerdings breiter bekannt gemacht werden. Außerdem hoffe ich auf eine klare Stellungnahme der Schweizer Kirchen gegenüber Nestlé. Immerhin ist die Firma eines der weltweit führenden Unternehmen in der Wasserprivatisierung. Bei einer so elementaren Sache wie der Wasserfrage sollten alle religiösen, sozialen, politischen oder ökonomischen Interessen zweitrangig sein. Denn davon hängt alles Leben ab, nicht nur unseres, sondern auch das der künftigen Generationen.
Das Gespräch führte Susanne Schanda, InfoSüd.
Flavio Luiz Cappo ist seit 1997 Bischof des Bistums Barra in einer sehr armen Gegend am Mittellauf des Rio São Francisco in Nordost-Brasilien. Der 61-Jährige wurde mit seinem Engagement für den Erhalt des Flusses international bekannt.