Herr Ziegler, gibt es heute den Süden und den Westen überhaupt noch?
Ganz sicher. Die Bipolarität der Weltgesellschaft ist ausgeprägter denn je. Mit Westen meine ich eine Wirtschaftsform: die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals. Die beherrscht die Welt. Die Völker des Südens auf der anderen Seite haben ganz ohne Zweifel eine gemeinsame Vergangenheit. Sie unterscheiden sich zwar ziemlich stark in ihrer jeweiligen politischen Organisation oder ihren Staaten, aber sie haben ein gemeinsames verwundetes Gedächtnis, weil sie vom Westen fürchterliche Dinge erlebt haben.
Aber inwieweit ist das noch politisch bedeutsam? In der Klimapolitik zum Beispiel haben die kleinen Inselstaaten mit der Haltung Chinas ebenso ein Problem wie mit der Position der Vereinigten Staaten.
Ich schreibe ja auch, dass China integriert ist in die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals. Es geht um Herrschaft und Unterwerfung. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf diesem Planeten, 47.000 Menschen verhungern jeden Tag. Im Süden – Punkt. Und die Machtmonopole – wirtschaftlich, ideologisch, militärisch – liegen im Westen. Nicht im Westen geografisch, nicht im Westen christlich-kulturhistorisch, nicht im Westen weißer Hautfarbe. Es geht um das herrschende Produktionssystem, es geht um strukturelle Gewalt.
Sie nennen in Ihrem Buch auch Indien als Beispiel: ein potenziell reiches Land, in dem mehrere hundert Millionen Menschen hungern. Was hat das mit dem Westen zu tun? Wer hindert die indische Regierung daran, eine andere Politik zu machen?
Richtig, die indische Regierung betreibt eine mörderische neoliberale Agrarpolitik – mit dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der schwer unterernährten Menschen der Welt in Indien lebt. Und das in einem Land, dessen Wirtschaft um 10 Prozent im Jahr wächst.
Entlassen Sie die Eliten in Ländern wie Indien oder Nigeria nicht aus ihrer Verantwortung, wenn Sie solche Missstände auf strukturelle Gewalt, auf das westliche System oder auf den Finanzkapitalismus schieben?
Sie müssen mit Marx zwischen verschiedenen Gegensätzen unterscheiden. Der Primärgegensatz ist die kannibalische Weltordnung. Sie ist mörderisch und zugleich absurd. Absurd, weil der objektive Mangel seit dem Beginn dieses Jahrtausends beseitigt ist. Die Welternährungsorganisation FAO sagt, dass die Weltlandwirtschaft mit den heute verfügbaren Produktionskräften problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Die kannibalische Weltordnung tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit. Das ist der Primärgegensatz. Dazu kommen die sekundären Gegensätze, da haben Sie völlig recht. Das sind die peripheren Eliten, die aus Eigeninitiative heraus korrupt sind und sich zu Satelliten machen lassen. Die tertiären Gegensätze wiederum manifestieren sich zum Beispiel in der Diskriminierung von Frauen in afrikanischen und arabischen Ländern. Das hat mit der kannibalischen Weltordnung nichts zu tun, wird aber durch diese verschlimmert. Bekämpfen müssen wir jetzt zuerst den Primärgegensatz.
Enthält das westliche Modell von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – das ja auch mit der Idee der Menschenrechte, der Aufklärung und mit technologischem Fortschritt verbunden ist – nicht zugleich das Potenzial, den von Ihnen diagnostizierten Primärgegensatz zu überwinden?
Die Welt wird nicht von Leuten wie Ihnen oder mir regiert, sondern von der immanenten Logik des Finanzkapitals. Punkt. Die Deutsche Bank, Nestlé, Syngenta oder Novartis sind nicht da, um den Hunger in der Welt zu besiegen. Sie sind da, um ihre Profite zu maximieren. Und das geht einher mit unglaublicher Gewalt und Zerstörung. Andererseits: In den Kulturkreisen, aus denen die Chefs dieser Firmen kommen, gibt es moralische Werte. Aber die kannibalische Weltordnung verrät diese Werte jeden Tag. Im UN-Menschenrechtsrat erlebe ich fortwährend diese totale Heuchelei. Zum Beispiel: Die westlichen Botschafter akzeptieren problemlos das Martyrium der Palästinenser – auch wenn in Gaza israelische Bomben arabische Kinder verbrennen. Da regt sich kein deutscher oder französischer Botschafter auf.
Das ist doch nichts typisch westliches. Sie zitieren die frühere Botschafterin Sri Lankas bei den UN in Genf, Sarala Fernando, mit ihrer Kritik am Westen, der sich wegen Darfur aufrege, aber nichts wegen Gaza unternehme. Haben Sie von Frau Fernando jemals etwas zum Vorgehen ihrer Regierung gegen die tamilische Minderheit in ihrem Land gehört?
Sie war im vergangenen Jahr zum Zeitpunkt der Eskalation in Sri Lanka nicht mehr im Amt. Mein Gefühl ist, dass da das verwundete Gedächtnis der Völker des Südens zum Ausdruck kommt. Natürlich weiß eine Frau wie Sarala Fernando, wie fürchterlich die Diktatur im Sudan ist. Aber dann kommt doch wieder das verwundete Gedächtnis und die Forderung nach Entschuldigung und Reparation des Westens hoch. Das ist einfach so.
Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Entwicklungspolitik?
Die ist wirklich absolut nebensächlich. Ein schwerer Lastwagen rast in eine Kinderschar hinein, tötet und verwundet. Dann steigt der Fahrer aus und verbindet ein paar Wunden. Das ist Entwicklungshilfe. Die Strukturen müssen verändert werden. In einer Demokratie wie Deutschland ginge das auch. Die Deutschen könnten morgen aufwachen und von ihrem Finanzminister fordern, sich für die Entschuldung der Entwicklungsländer einzusetzen – und nicht mehr für die Interessen der Banken. Es müsste darum gehen, weniger zu stehlen, statt mehr zu geben.
Sehen Sie denn Ansätze für Veränderungen, wie Sie Ihrer Ansicht nach notwendig sind?
Da muss man mit Theodor Adorno unterscheiden zwischen effektiver Gerechtigkeit und dem, was das Bewusstsein als gerecht will. Klar ist, dass die effektive Gerechtigkeit schwindet: Die Hungerzahlen im Süden, das verseuchte Wasser, die Epidemien nehmen zu, die Leichenberge wachsen. Aber das Bewusstsein macht eindrückliche Fortschritte. Sind Sie mal auf einem Weltsozialforum gewesen? Da kann man sehen, was die neue planetarische Zivilgesellschaft ist: eine Bruderschaft der Nacht, die sich aus allen Altersklassen und sozialen Schichten zusammensetzt. Ihr einziger Motor ist der moralische Imperativ. Immanuel Kant schreibt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“
Sie schreiben, der Hass auf den Westen sei ein mächtiger Mobilisierungsfaktor für die Völker des Südens. Nun versuchen aber jeden Tag Afrikaner nach Europa und Lateinamerikaner in die USA zu kommen. Der Westen muss also auch ziemlich attraktiv sein.
Die Menschen kommen, weil sie keine andere Wahl haben. Die Europäische Union organisiert den Hunger in Afrika, und die Opfer, die versuchen, irgendwo Leben zu finden, werden dann militärisch zurückgedrängt. Der vernunftgeleitete Hass auf den Westen hat aber auch Unglaubliches vollbracht – zum Beispiel in Bolivien. Zum ersten Mal seit 500 Jahren wurde in Lateinamerika mit Evo Morales ein Indianer zum Präsident gewählt, kein als Indianer verkleideter Linksintellektueller, sondern ein Aymara, ein Koka-Bauer. Das ist eine unglaubliche Renaissance.
Aber wandern jetzt weniger Bolivianer in die USA aus?
Kein Mensch mehr – außer den Reichen.
Das Gespräch führten Tillmann Elliesen und Gesine Wolfinger.
Jean Ziegler ist Mitglied des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Davor war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Abgeordneter im Schweizer Parlament.