Afrikas Händler am Bosporus

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Türkei - Afrika
Junger Afrikaner in einem Laden mit T-Shirts für Männer, rechts im Bild eine männliche Schaufensterpuppe in einem langärmeligen gestreiften Hemd.
Elisa Domingues dos Santos
Warten auf Kunden aus der Heimat: afrikanische Boutique im ­Stadtviertel Laleli-Yenikapı in Istanbul.
Türkisch-afrikanische Beziehungen
In Istanbul haben sich Afrikaner niedergelassen, die Kleider oder Möbel in ihre Heimatländer verkaufen. Dieser sogenannte Kofferhandel floriert, ist aber für die Zugewanderten kein Zuckerschlecken.

Nicht weit von den Moscheen des zentralen Stadtteils Sultanahmet und vom Großen Basar in Istanbul drängen sich nicht nur Menschen aus aller Welt – dort blüht auch der globalisierte Kapitalismus. Die Wirtschaftsmetropole der Türkei breitet sich auf beiden Seiten des Bosporus aus, der mit mehr als 16 Millionen Einwohnern am stärksten urbanisierten Meeresstraße der Welt. Im Durchschnitt passieren 3000 Containerschiffe jeden Monat die Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer.

Am Rande dieses Geschäftslebens haben sich zahlreiche Zugewanderte einen Platz im eher informellen Handel verschafft: im sogenannten Kofferhandel, auf Türkisch „bavul ticareti“. Dabei erwerben Ausländer in Istanbul Waren, die sie dann im Einzel- oder Zwischenhandel, also in kleinen oder mittelgroßen Mengen, in ihren Heimatländern weiterverkaufen. 

Im Stadtviertel Laleli-Yenikapı schlägt das Herz des Kofferhandels. Lieferwagen hupen Männer an, die zu Fuß mit Sackkarren die Straßen überqueren. Mehr als mannshoch türmen sich darauf die verpackten Waren. Diese Arbeiter transportieren Pakete von den Geschäften zu den Depots der Transportgesellschaften, die als „Kargos“ bezeichnet werden. Sie sind auf diese Art des Handels spezialisiert und verfrachten die Waren mit Containerschiffen in die ganze Welt.

Die ersten Kofferhändler waren Maghrebiner und Osteuropäer

Zuerst haben in den 1970er Jahren Maghrebiner den Kofferhandel betrieben, ab den 1990er Jahren dann Russen und Osteuropäer. Jetzt aber gehen die Pakete an Adressen im subsaharischen Afrika, wo es kaum eigene Industrie gibt. In der lebendigen und lärmenden Handelslandschaft am Goldenen Horn haben sich afrikanische Kargo-Unternehmen ihre Nische geschaffen. Die Fahnen des Senegal, Gambias, Kenias oder auch Äthiopiens schmücken die Fassaden der Exportbüros, die zwischen Ladengeschäften von Zwischenhändlern, Unterkünften für „Touristen-Einkäufer“ und Börek-Restaurants liegen. In diesen transnationalen Handelsnetzen spielen Afrikaner die Rolle der Mittler zwischen Käufern aus ihren Heimatländern und türkischen Verkäufern. Mit ihren Geschäften haben sie Anteil am Strom von Menschen, Gütern und Ideen zwischen der Türkei und den Ländern Afrikas.

Der Umfang dieser Geschäfte lässt sich kaum beziffern, aber sie haben sich nicht zufällig ergeben. Dass die Einwanderung aus dem subsaharischen Afrika seit 2003 zugenommen hat, hängt damit zusammen, dass die islamisch-konservative Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die 2002 an die Macht gekommen ist, ein Jahr danach eine Politik der Annäherung zwischen der Türkei und dem afrikanischen Kontinent eingeleitet hat. Sie ist Teil einer allgemeineren Öffnung der Türkei nach außen auf Grundlage der Politik der „strategischen Tiefe“, die Ahmet Davutoǧlu begründet hat; der Politiker war außenpolitischer Berater von Präsident Erdoǧan und dann zeitweise Außenminister und Premierminister.

Autorin

Elisa Domingues dos Santos

promoviert in Politikwissenschaft und ist assoziierte Mitarbeiterin an französischen Instituten für Außenpo­litik und für anatolische Studien. Sie arbeitet in Istanbul zu türkisch-afrikanischen Beziehungen. Ihr Text ist zuerst im Portal afriqueXXI.info erschienen

Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und dem afrikanischen Kontinent ist so von 5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf 31 Milliarden 2023 gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der diplomatischen Vertretungen der Türkei in Afrika auf heute 44 vervierfacht. In Afrika findet man jetzt türkische Organisationen in allen Bereichen – von der kulturellen und religiösen Zusammenarbeit, etwa im Moscheebau, über Bildung (türkische Schulen und Stipendienprogramme), Gesundheit (Krankenhäuser), Energie und große städtische Infrastrukturprojekte (das Stadion Abdoulaye Wade im senegalesischen Dakar und der Hafen von Mogadischu in Somalia) bis neuerdings hin zu Investitionen im Sicherheitswesen (Ausbildungen von Soldaten, Waffenverkäufe). Man findet in Afrika kaum mehr einen Supermarkt, der nicht die türkischen Marken Ülker und Eti führt, und die Turkish Airlines fliegt mehr als 60 Ziele in Afrika an. Vor allem dieser Verbindung nach Afrika ist zu verdanken, dass der Kofferhandel in Istanbul aufblühen konnte.

„Wir sind alle wegen des Business hier“

Betrieben wird er von Afrikanern, die in die Türkei gekommen sind, um „sich zu suchen“ – so formuliert es Mohamadou, ein Senegalese in den Vierzigern, der vor zehn Jahren hergekommen ist. „Aber wir haben uns nicht gefunden, das Leben hier ist hart“, fährt er fort. 

Der größte Teil der Afrikaner hier berichtet, dass sie sich mangels anderer Möglichkeiten für die Türkei entschieden haben – mehrere Versuche, ein Visum für Europa oder Nordamerika zu bekommen, seien gescheitert. Den meisten hat dann ein Cousin oder ein Bekannter geholfen, der schon in der Türkei war, etwa mit einem Hochschulstipendium des türkischen Staats oder um Geschäfte zu machen. „Wir sind alle wegen des Business hier“, verrät Ayoub, ein Student aus Burkina Faso.

Im Demiröz, einem mehrgeschossigen Einkaufszentrum in Laleli, findet man ein eigentümliches Ökosystem der Öffnung zur Welt nach türkischer Manier. Im Untergeschoss haben sich Schneidereien angesiedelt, Zeuginnen der Schnelllebigkeit der türkischen Textilindustrie; sie sind vollgestopft mit Meterware. In den oberen Geschossen sind Geschäfte mit Konfektionskleidung und Accessoires, geführt von Türken und Syrern. Dazwischen liegen drei Stockwerke, in denen sich Kargo-Unternehmen eingerichtet haben, die meisten afrikanisch, vor allem senegalesisch, oder aus Zentralasien. 

Im Einkaufszentrum Demiröz haben sich auf den mittleren Etagen viele im Kofferhandel tätige Afrikaner eingerichtet, vor allem aus dem Senegal.

„Als ich 2012 ankam, gab es drei afrikanische Kargo-Läden, heute sind es ungefähr fünfzehn“, erklärt Mohamadou. Er sitzt in seinem Büro und legt weder den Mantel noch das Telefon ab. Auf dem Gerät wickelt er abwechselnd Geschäfte ab und verfolgt die Nachrichten aus dem Senegal. Moussa wiederum hat in Istanbul „durchgehalten“. Er macht Berechnungen in einer Ecke seines Hefts, dann ruft er bei einem seiner Geschäftspartner an. „Ich habe noch einmal nachgerechnet, das macht 700, mein Bruder… Ja, Dollar sind besser, bis gleich“, sagt er in recht flüssigem Türkisch. Wenn es um seine persönliche Geschichte geht, bleibt Moussa vage. 

Andere sind mitteilsamer, darunter Amadou. Bevor er mit seiner Sackkarre Handelsware zu transportieren begann, arbeitete der Mann mit Wurzeln im Senegal und in Mali in „çabuk“, Schneidereien. Er fand die Arbeit über eine Facebook-Gruppe, nachdem er in der Türkei angekommen war. „Çabuk“ bedeutet „schnell“ und ist eines der ersten türkischen Wörter, die afrikanische Arbeiter hier lernen. „Schnell, schnell, arbeite schnell – das sagen die Chefs von früh bis spät“, erklärt Amadou. „Die Arbeit ist sehr schlecht bezahlt und anstrengend. Ich bin froh, da raus zu sein.“ 

Die Käufer müssen sich nicht mehr herbewegen

Andere haben als Straßenverkäufer von Uhren und Schmuck begonnen wie der Senegalese Yamar, der mittlerweile im Kargo-Handel tätig ist, aber auch ein Onlinegeschäft betreibt – dank des technischen Fortschritts und der sozialen Netzwerke müssen sich die Käufer nicht mehr herbewegen. Yamar sitzt auf einem Hocker im hinteren Teil seines Geschäfts, in den zwei schmale Durchgänge zwischen Kleiderständern führen, die sich unter dem Gewicht der farbigen Kleidungsstücke biegen. Auf seinem Telefon zeigt er eine Seite eines sozialen Netzwerks: „Schau mal, ich poste die Artikel, die ich im Sortiment habe. Ich gebe die verfügbaren Größen und die Preise an, Festpreise in Dollar. Die Kundinnen schreiben mir, was sie wollen. Mindestbestellmenge sind zehn Artikel. Die Bestellung wird gewogen, das Kilo kostet sechs Euro. Dann zahlt man über MoneyGram oder Western Union“, zwei Firmen für Geldtransfers. 

Für den Versand nutzt Yamar die Dienste von Teranga Cargo im Untergeschoss. Er musste sich mit einer Türkin zusammentun, um ihre Exportgenehmigung nutzen zu können. In Dakar gibt es ein großes Warenlager, dorthin schickt er die Artikel in kleinerer oder größerer Zahl. Anschließend werden sie auf den Märkten zum drei- oder vierfachen Preis angeboten.

Die Arbeiter im Kargo-Geschäft bieten auch Dienste als Vermittler, Makler oder Übersetzer an. Das Kargo, in dem Mohamadou arbeitet, ist auf Möbel spezialisiert. Er hat gerade seine Thiéboudienne aufgegessen, das senegalesische Nationalgericht mit Fisch und Reis, und erklärt: „Wenn uns ein Käufer kontaktiert, organisieren wir alles für ihn. Wir reservieren das Hotel und den Transfer zum Flughafen, und wir begleiten ihn zu den Verkaufsräumen unserer Partner. Wenn er kauft, bekommen wir Kommission. Anschließend sorgen wir für den Transport der Waren.“

Ein Visum zu bekommen, wird auch hier immer schwieriger

Wer Kargo-Geschäfte vermittelt, hat den Anfang des Erfolgs geschafft. Über ihr Netz an Kontakten verschaffen sich die Arbeiter dort einen Platz. Aber alle hoffen, in ihr Heimatland zurückkehren zu können, um die Geschäfte mit der Türkei vor dort aus weiterbetreiben zu können. Umso mehr, als ihre Arbeits- und Lebensbedingungen sich verschlechtern.

Vor dem Kargo-Büro, für das er arbeitet, wartet Ibrahim, auch aus dem Senegal. „2012, 2013 liefen die Geschäfte gut“, erklärt er. „Jetzt ist es schwierig geworden, Geld zu verdienen. Auch in der Corona-Zeit lief es gut, weil China nichts mehr exportierte, es gab weniger Wettbewerb. Jetzt hat sich China wieder geöffnet, und es ist schwieriger geworden.“ Neben der Konkurrenz machen Ibrahim und den anderen die schwere Wirtschaftskrise der Türkei und der Wertverlust der türkischen Lira zu schaffen. „2012 war eine türkische Lira 325 westafrikanische Francs wert, heute sind es nur noch 18!“, klagt Ibrahim. 

Doch die strengere Einwanderungspolitik bleibt die größte Hürde. „Vorher konnten wir ohne Sorgen hin- und herreisen“, sagt Mohamadou. „Seit einem Jahr aber werden weniger Visa an Käufer vergeben, das wirkt sich auf unsere Geschäfte aus. Und sie vergeben keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr. Auch die Verlängerungen haben sie eingeschränkt: In der Vergangenheit bekam ich zwei Jahre, letztes Jahr habe ich nur ein Jahr Verlängerung bekommen. Jetzt warte ich auf Antwort…“ 

„Sie schmeißen die ganze Welt hinaus“

Die Bedingungen für eine Aufenthaltsgenehmigung (ikamet) wurden vor einem Jahr verschärft, Kontrollen und Ausweisungen haben zugenommen. Um weiterhin bleiben zu können, war Mohamadou gezwungen, nach Beylikdüzü zu ziehen, ein Istanbuler Stadtviertel, das weiter außerhalb gelegen ist. Es ist mehr als anderthalb Stunden von Laleli entfernt. Die restriktiven Maßnahmen erließ die Regierung im Vorfeld der Wahlen vom Mai 2023, und der Wahlkampf wurde vor allem auf dem Schlachtfeld des Ultranationalismus ausgetragen. „Sie schmeißen die ganze Welt hinaus, die Afghanen, die Syrer, die Afrikaner“, sagt Mohamadou.

Die Lebenswege und Erfahrungen der Afrikaner in Istanbul sind eine wenig gesehene Facette der türkisch-afrikanischen Annäherung. Hier zeigen sich Menschen, die bedingt erfolgreich sind, die aus Unternehmergeist ins Ausland gezogen sind. Aber sie sind kaum in die türkische Gesellschaft integriert und drohen, infolge des Rechtsrucks in einer Falle zu sitzen. 

Es ist 16 Uhr 30, Mohamadou macht das Büro zu. Als er den Schlüssel umdreht, denkt er daran, was die Türkei im Senegal unternimmt.  Müde sagt er: „Wir kommen, um uns zu finden – sie kommen, um zu investieren. So läuft es in der Welt.“

Aus dem Französischen von Christine Lauer. Der Artikel ist zuerst bei "AfriqueXXI" erschienen. 

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