Eingeklemmt zwischen Indien und China

 Indiens Premierminister Narendra Modi (links) und Bhutans Premier Tshering Tobgay enthüllen ein Schild von einem Krankenhaus.
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Inszenierte Harmonie: Indiens Premierminister Narendra Modi (links) weiht beim Besuch in Thimphu im März 2024 mit Bhutans Premier Tshering Tobgay ein Krankenhaus ein.
Bhutan
Bhutan gilt als Hort der Friedfertigkeit und als Erfinder des „Bruttonationalglücks“. Doch hinter den Kulissen zerren die beiden mächtigen Nachbarn an dem kleinen Königreich und versuchen ihre Interessen durchzusetzen.

Das Königreich Bhutan ist ein Paradebeispiel für das, was man in der Himalaya-Region eine „Yamswurzel zwischen zwei Felsblöcken“ nennt. Die beiden Felsblöcke sind in diesem Fall Bhutans Nachbarn China und Indien – zwei Giganten mit äußerst gegensätzlichen Interessen und Ideologien. Direkt an Bhutan grenzen die Regionen Tibet und Sikkim an – sie sind durch Kultur, Religion und geopolitische Lage mit dem Königreich verwandt und als „Yamswurzeln“ bereits zerquetscht worden: Beide waren faktisch unabhängige Länder, bevor sich China 1950 Tibet und Indien 1975 Sikkim einverleibte. Damit ist Bhutan der letzte verbliebene tibetisch-buddhistische Nationalstaat der Welt.

Bhutans Herausforderung – seine Integrität zu bewahren und gleichzeitig die konkurrierenden Interessen seiner mächtigen Nachbarn auszubalancieren – ließ sich im 20. Jahrhundert noch relativ leicht meistern, denn selbst nach der Annexion Tibets fehlten China die Ressourcen und wahrscheinlich auch der Wille, seinen Einfluss in Bhutan geltend zu machen. Außerdem führen die Wege nach China – durch Tibet – über bis zu 4000 Meter hohe Bergpässe. Bhutans nächster Zugang zum Meer wiederum ist das 500 Kilometer südlich gelegene indische Kolkata. Aufgrund seiner geografischen Lage ist Indien von jeher der einzige wichtige Handelspartner Bhutans und der natürliche Garant seiner Sicherheit. Obwohl Bhutan schon lange ein unabhängiger Staat ist, stand das Land von 1949 bis 2007 offiziell unter indischem Protektorat. Seitdem ist es in der Praxis unabhängig, allerdings vertraglich verpflichtet, seine nationalen Belange in „enger Kooperation“ mit Indien abzustimmen.

Bhutans König stimmte 2008 für eine demokratische Verfassung

Seit Ende der 1990er Jahre gilt Bhutan weltweit als einzige mehrheitlich buddhistische Himalaya-Nation. Erreicht wurde dieser Status unter anderem durch die Einführung einer förmlichen Kleiderordnung für alle Bürger in der Öffentlichkeit während der Arbeitszeit, einen einheitlichen architektonischen Stil für offizielle Gebäude, die ausschließliche Verwendung der Landessprache Dzongkha und des Englischen in den Schulen und die Abschaffung des Unterrichts in Nepali. Anfang der 1990er Jahre flohen zudem 100.000 ethnische Nepalesen, die von Bhutan als illegale Einwanderer oder politische Aufwiegler betrachtet wurden, aus dem Land oder wurden ausgewiesen. 

Weltweite Popularität erlangte Bhutan dadurch, dass das Land die Leistungsfähigkeit seiner Wirtschaft mit der Ermittlung des „Bruttonationalglücks“ misst, in das auch nicht ökonomische Aspekte des Wohlergehens und der Naturschutz einfließen. Die UN-Generalversammlung begrüßte 2011 diesen Ansatz. Das Ansehen Bhutans stieg weiter durch die Entscheidung des Monarchen für eine demokratische Verfassung im Jahr 2008. Seitdem gab es vier Parlamentswahlen, denen friedliche Machtwechsel folgten. Darüber hinaus gilt in Bhutan eine strikte Trennung von Religion und Staat; Kleriker und Mönche können keine politischen Ämter bekleiden und dürfen sich nicht in die Wahlen einmischen. 

Bhutan achtet darauf, sich nicht in die Politik der Großmächte zu verstricken, indem es mit keinem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats volle diplomatische Beziehungen aufnimmt und auch keinem die Einrichtung einer Botschaft in Thimphu, der Hauptstadt Bhutans, gewährt. Das Land beschränkt sich stattdessen auf „sinnvolle“ Zusammenarbeit im Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialbereich mit diesen Ländern. Im In- und Ausland hat Bhutan – abgesehen von seinem Umgang mit den ethnischen Nepalis – als kleines, ansonsten schwaches Land ein hohes Maß an Soft Power und Reputationsmanagement entwickelt. 

China versucht den indischen Einfluss in Bhutan zu verringern

Seit 2016 sieht sich das Königreich jedoch einem stetig wachsenden Druck aus dem Norden ausgesetzt. Dass China sich zunehmend für seinen südlichen Nachbarn interessiert und versucht, dort den indischen Einfluss einzudämmen, überrascht nicht. Im Himalaya aber ist das wachsende Engagement Chinas besonders heikel, da Indien und Bhutan die einzigen Nachbarn sind, mit denen China seine Grenzen nicht vollständig geklärt hat. Indien ist zudem eines der wenigen Länder, mit denen China in moderner Zeit einen Krieg geführt (und ihn gewonnen) hat. Die derzeitigen Spannungen entlang der 3400 km langen Grenze zwischen Indien und China – die streng genommen die Grenze zwischen Indien und Tibet ist – haben Indien dazu veranlasst, vorsichtig eine mögliche Partnerschaft mit den USA auszuloten, um China Paroli bieten zu können. Allerdings erhöht dies nur die Anreize für China, den indischen Einfluss in Bhutan zu verringern.

Bhutan ist trotz dieser regionalen Entwicklungen ein erklärter Freund Chinas geblieben. Die Strategie des Landes besteht darin, jede öffentliche Andeutung von Spannungen oder Unmut mit einem seiner Nachbarn zu vermeiden. Dazu gehört eine gewisse historische Amnesie: Während der militärischen Annexion Tibets Anfang der 1950er Jahre schluckte China auch mehrere jahrhundertealte bhutanische Enklaven innerhalb Tibets, ohne dies jemals öffentlich zu erklären. Bhutan hat damals kaum gegen den Verlust dieser Gebiete protestiert und dann das neue kommunistische Regime Chinas diplomatisch unterstützt, insbesondere bei den Vereinten Nationen, nachdem die Volksrepublik China dort 1971 aufgenommen worden war.

Frauen stehen im Januar 2024 in Thimphu vor einem Wahllokal ­Schlange. Bhutan hat seit 2008 eine demokratische Verfassung und ­mehrere Regierungswechsel erlebt.

Seitdem pflegen Bhutan und China ein Verhältnis freundschaftlicher Nachbarschaft auf der Grundlage gemeinsamer Interessen, obwohl Bhutan unter dem militärischen Schutz Indiens steht. Man betreibt kulturellen Austausch und entwickelt Handel und Tourismus in beide Richtungen. Bhutan unterstützt zudem die „Ein-China-Politik“, was bedeutet, dass es die tibetischen und taiwanesischen Ansprüche auf Eigenständigkeit verneint. Die Weigerung Bhutans, vollständige diplomatische Beziehungen zu China aufzunehmen, erklärt man schlicht als Folge der Politik des generellen Verzichts auf formale Beziehungen zu den Großmächten. Mit Forderungen aus Indien, wie dies China behauptet, habe das nichts zu tun, heißt es in Thimphu.

Vor diesem Hintergrund übt China wachsenden Druck auf Bhutan aus, insbesondere dadurch, dass es Ansprüche auf Gebiete innerhalb der traditionellen, aber nicht formell festgelegten Grenzen Bhutans stellt. Tatsächlich hat Bhutan in aller Stille in den 1950er Jahren mindestens ein Gebiet an China faktisch abgetreten (einen Teil des im Westen des Landes gelegenen Distrikts Haa), ein weiteres in den 1980er Jahren (Kula Khari) und Berichten zufolge seitdem noch zwei kleinere Gebiete (Ningti und Mela). China erhebt aber weitere Forderungen auf vier größere Areale in Bhutan (einen Teil von Haa, die Gebiete Beyul und Menchuma im Norden und Sakteng im Osten), die zusammen etwa 4500 Quadratkilometer ausmachen, immerhin etwa 11 Prozent der verbleibenden Landmasse Bhutans. 

Bhutan soll ein Gebiet an China abtreten

Chinesische Kommentatoren machen keinen Hehl aus dem Hauptziel Pekings: Bhutan soll ein Gebiet im äußersten Westen des Landes, das Doklam-Plateau, an China abtreten. Die anderen Forderungen sind eher als Druckmittel zu verstehen, um Bhutan zum Einlenken in dieser Frage zu bewegen. Doklam hat eine Fläche von 89 Quadratkilometern und liegt im Dreiländereck von Indien, China und Bhutan. Entscheidend ist, dass sich vom südlichen Rand des dortigen Gebirgskamms Indiens größte geostrategische Schwachstelle überblicken lässt – die als Shiliguri-Korridor bekannte Landbrücke. Sie ist an ihrer schmalsten Stelle lediglich 22 Kilometer breit und verbindet das indische Kernland mit seinen nordöstlichen Gebieten.

Für Indien ist dieser Gebirgskamm von so großer Bedeutung, dass es 2017 aufgrund eines Hilfsersuchens Bhutans Truppen auf das Plateau entsandte, um zu verhindern, dass die Chinesen Straßen bis dorthin anlegten. Chinesische und indische Truppen hielten sich 73 Tage lang in Schach. Zwar konnte die Situation durch Vermittlung Bhutans unblutig beendet werden, doch der Streit bleibt ungelöst. Das chinesische Militär besitzt weiterhin die volle Kontrolle über zwei Drittel des Doklam-Plateaus sowie über weitere angrenzende Gebiete im Norden, die nominell zu Bhutan gehören.

Offiziell setzt China in seiner Strategie gegenüber Bhutan auf Verhandlungen. Schon 1990, manchen Quellen zufolge 1996, hat es ein „Paketabkommen“ vorgeschlagen: Peking will auf Forderungen im Norden Bhutans verzichten, wenn das Land im Gegenzug seine Souveränität über von China beanspruchte Gebiete im Westen aufgibt, also auch über Doklam. Seit Mitte der 1980er Jahre hat China in 25 Verhandlungsrunden und zahlreichen weiteren Begegnungen, in denen es um technische Details ging, diesen Vorschlag mit Bhutan erörtert. Für Bhutan hat zumindest eines der im Norden beanspruchten Gebiete, Beyul Khenpajong, große kulturelle und religiöse Bedeutung. Im Jahr 1997 gab es Berichte, Bhutan sei bereit, die weitgehend unbewohnten umstrittenen Gebiete im Westen aufzugeben, um den Streit um Beyul zu beenden. 

Indien übt ebenfalls Druck auf Bhutan aus

Allerdings hat Bhutan sich 2007 gegenüber Indien vertraglich verpflichtet, die nationalen Interessen dieses Nachbarlandes zu beachten. Daher kann Bhutan nicht einfach Doklam an China übergeben. Im Juli 2013, nur wenige Tage vor den Parlamentswahlen, wurde Bhutan drastisch vor Augen geführt, was das Land riskiert, wenn es die indischen Bedenken ignoriert. Weil Neu-Delhi befürchtete, Bhutans Regierung in Thimphu plane eine Annäherung an Peking, strich Neu-Delhi abrupt die Subventionen für Kochgas und Kerosin im eigenen Land. Dies ließ auch die Brennstoffpreise in Bhutan in die Höhe schnellen und führte zum Sturz der amtierenden Regierung. Bhutan steht somit unter erheblichem Druck von beiden Seiten. Es kann sich weder auf Chinas Paket­abkommen einlassen noch die Grenzfragen anderweitig lösen.

Während China vor der Welt den Weg respektvoller Verhandlungen zu gehen vorgibt, verfolgt es in Wahrheit eine Politik eskalierender Übergriffe und Provokationen. Zunächst schickte China Hirten und deren Herden in die umstrittenen Zonen innerhalb Bhutans, dann militärische Patrouillen zu Fuß und schließlich kamen Bautrupps, um Straßen anzulegen. Inzwischen haben die Chinesen dort militärische Außenposten errichtet und sie damit praktisch zum Sperrgebiet für das Militär und Zivilisten aus Bhutan gemacht. Diese Strategie verfolgt den dreifachen Zweck, die Gebietsansprüche durch physische Präsenz zu untermauern, die militärische Entschlossenheit und Kompetenz Bhutans zu testen und zu schwächen und den Verhandlungsdelegationen des kleinen Nachbarlands unmissverständlich klarzumachen, dass jede Verweigerung von Zugeständnissen nur zu weiterer Eskalation führen wird.

China besetzt die gewünschten Gebiete

Dennoch kam es überraschend, als China 2016 damit begann, ganze Dörfer in den beanspruchten Gebieten im Norden und Westen Bhutans zu errichten, und damit die Eskalation auf eine neue Stufe hob. Mit Hilfe von Subventionen lockte es Siedler an, baute wetterfeste Straßen, sorgte für Stromversorgung und Kommunikationssysteme, schuf Einkommensmöglichkeiten für die Bewohner und errichtete Polizeiposten und Militärstützpunkte. Schon sind mehr als ein Dutzend solcher Dörfer innerhalb der traditionellen Grenzen Bhutans entstanden. Mit anderen Worten: Nachdem China drei Jahrzehnte lang das gewünschte Ergebnis nicht erreichen konnte, besetzt es nun einfach die betreffenden Gebiete. So soll Bhutan dazu gebracht werden, endlich das Paketabkommen anzunehmen und damit – wie chinesische Offizielle deutlich zum Ausdruck bringen – „Neu-Delhis regionale Hegemonie“ und „Einmischung“ in Bhutans Angelegenheiten in die Schranken zu weisen. Die faktische Okkupation dieser Gebiete durch China ist ein klarer Verstoß gegen einen 1998 mit Bhutan abgeschlossenen Vertrag, der China „verpflichtet, die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität Bhutans vollständig zu respektieren“, mithin den Status quo der umstrittenen Gebiete nicht anzutasten.

Viele Jahre lang äußerte sich Bhutan nicht zu diesen Grenzstreitigkeiten, um jegliche Provokation eines seiner Nachbarn zu vermeiden. Stattdessen bestätigte man lediglich, dass Gespräche geführt würden. Doch im Jahr 2023 erklärte der damalige bhutanische Ministerpräsident gegenüber einem belgischen Journalisten, beide Seiten stünden kurz vor einer Einigung über das Paketabkommen. Die indischen Medien, die schon die baldige Abtretung Doklams an China sahen, gerieten in Aufruhr. Doch das Schweigen der indischen Regierung zu dieser Angelegenheit lässt vermuten, dass nichts dergleichen bevorsteht. Wahrscheinlicher ist, dass der Ministerpräsident lediglich andeuten wollte, Bhutan könne die anderen westlichen Gebiete an China abtreten, nicht aber Doklam. Im Gegenzug, so kann man spekulieren, wird China nur einen Teil der im Norden beanspruchten Gebiete zurückgeben. So könnte Bhutan das heilige Gebiet Beyul Khenpajong behalten, wird aber womöglich gezwungen sein, nördlich davon gelegene, bereits von China besiedelte Areale aufzugeben. 

Bloß nicht den nördlichen Nachbarn reizen

Im März dieses Jahres stattete der indische Premierminister Narendra Modi Bhutan einen vielbeachteten Besuch ab, bei dem er und der neue bhutanische Ministerpräsident Tshering Tobgay sich publikumswirksam umarmten. Außerdem versprach Modi Bhutan umfangreiche Hilfe. Doch nur einen Tag später forderte Bhutan Berichten zufolge Indien auf, den Bau einer Straße an der Ostgrenze des Landes einzustellen, gegen die vermutlich China Einwände erhoben hatte. So gerne Bhutan signalisiert, nach wie vor enge Beziehungen zu Indien zu unterhalten, muss es doch alles vermeiden, was seinen nördlichen Nachbarn reizen könnte. Schließlich ist Thimphu auch an den Vorteilen gelegen, die sich aus dem Handel mit China und dem guten Verhältnis zu Peking ergeben. 

Offenbar stehen Bhutan noch viele weitere Gesprächsrunden bevor, ehe es seine Nordgrenze abstecken kann. Und es sieht so aus, als würde China die Weigerung Bhutans, eine chinesische Botschaft in Thimphu zuzulassen, nicht länger akzeptieren, da die Inder dies kaum als direkte Bedrohung ihrer Sicherheit werten können. Der winzige Binnenstaat Bhutan wird bei all seiner außergewöhnlichen Soft Power kaum eine andere Wahl haben, als weiterhin zu versuchen, den Druck seiner beiden mächtigen Nachbarn auszugleichen, indem er öffentliche Kritik vermeidet und regelmäßig Freundschaftsbekundungen abgibt.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2024: Zurück zu den Wurzeln?
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