Der Einfluss des Drogenhandels wächst in Lateinamerika; selbst ein traditionell stabiler Staat wie Costa Rica ist zunehmend betroffen. Doch in keinem Land war die Entwicklung so tiefgreifend und schnell wie in Ecuador. Der Andenstaat ist zum wichtigsten Kokainlieferanten der EU geworden. Wurden dort 2019 noch 60 Tonnen Kokain konfisziert, waren es 2023 fast 200 Tonnen; nur Kolumbien beschlagnahmte mehr.
Parallel ist die Mordrate in Ecuador gestiegen: von knapp 10 pro 100.000 Einwohner 2019 auf etwa 47 im vergangenen Jahr; in Deutschland liegt diese Rate bei 0,25. Ecuador verzeichnet damit auf dem Kontinent jetzt die höchste Tötungsrate – etwa doppelt so hoch wie Kolumbien und Mexiko. Das bedeutet, dass 2023 annähernd 8000 Menschen einen gewaltsamen Tod erlitten haben. Ungefähr vier Fünftel der Morde treffen Mitglieder rivalisierender Drogenbanden – sie sind Täter und Opfer. Normale Bürgerinnen und Bürger sind Schutzgelderpressungen, Entführungen und Raub ausgesetzt; damit verdienen sich die lokalen Banden, die sich Gebiete für den Drogenhandel und den Drogenverkauf im Inland sichern, ein Zubrot.
Für das ecuadorianische Desaster gibt es ein ganzes Bündel an Gründen, darunter äußere, auf die das Land keinen Einfluss hat wie die Geografie. Ecuador produziert bisher nur geringe Mengen Koka, liegt aber zwischen den beiden größten Produzenten Kolumbien und Peru. Und seine 2237 Kilometer lange Pazifikküste bietet gute Verschiffungsmöglichkeiten, zumal Polizei und Marine sie nur wenig kontrollieren.
Gründe für den Vormarsch der Drogenwirtschaft
Der Friedensschluss zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla 2016 hat zudem dazu geführt, dass die Kontrolle über die Drogenanbaugebiete in den südkolumbianischen Grenzprovinzen von der FARC an lokale, rein kriminelle Akteure übergegangen ist. Zugleich sind die mexikanischen Mafias, insbesondere die Kartelle Sinaloa und Jalisco Nueva Generación, zunehmend international tätig und haben Banden in Ecuador wie die Choneros und die Lobos in ihr globales Netz integriert.
Hinzu kommen innere Gründe, die in der ecuadorianischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verwurzelt sind. So bietet Ecuador, seit es im Jahr 2000 seine Landeswährung auf den US-Dollar umgestellt hat, bessere Geldwäschemöglichkeiten als die Nachbarländer. Und weder die Justiz noch die Sicherheitsbehörden, weder die Politik noch die Privatwirtschaft haben den Willen und die Fähigkeit gezeigt, dem Vordringen der Drogenwirtschaft Einhalt zu gebieten.
Zunehmend sind sie sogar Teil eines „Narco-Staates“ geworden. So hat Ende 2021 der US-Botschafter Michael Fitzpatrick Führungskräfte der ecuadorianischen Polizei als „Narco-Generäle“ benannt und ihnen die Visa für die USA aberkannt. 2022 wurden Telefonate zwischen Rubén Cherres, einem Verbindungsmann zur albanischen Drogenmafia, und Danilo Carrera, dem Schwager und engen Mitarbeiter des damaligen Präsidenten Lasso, über erfolgreich beeinflusste Kabinettsbesetzungen bekannt.
Wo die Drogenkriminalität floriert
Die Hotspots der Drogenkriminalität in Ecuador sind die Küstenprovinzen Esmeraldas, Manabí, Los Ríos und Guayas. Das liegt nicht nur an den Handelsrouten: Auch durch die Anden und das Amazonasgebiet führen wichtige Verbindungen an die Küste und nach Brasilien, aber die Drogenmafias sind hier wesentlich schwächer. Denn hier dominieren indigene Gemeinschaften mit noch relativ intakten sozialen Strukturen.
Dagegen ist Esmeraldas das Armenhaus Ecuadors, vom Staat vernachlässigt, mit einer afro-ecuadorianischen Mehrheit, die auf Nachfahren von Sklaven zurückgehen, und einer schwer kontrollierbaren Grenze zu Kolumbien. Die anderen Gesellschaften an der Küste sind aus Arbeitsmigration entstanden; ihre Bevölkerung ist auf der Suche nach Jobs in Kakao-, Bananen- und Ölpalmplantagen zugezogen und sehr divers. „Das Agrobusiness und speziell die Bananenindustrie haben keine Entwicklung menschenwürdiger Arbeits- und Lebensbedingungen zugelassen“, resümiert der ecuadorianische Soziologe Agustín Burbano. Er hält dies für „eine wichtige Variable, ohne die sich die Ausweitung von Drogenhandel und -kriminalität in unserem Land nicht erklären lässt“.
Kaum noch traditionelle Großfamilien und dörfliche Nachbarschaften
An der Küste bestimmen Großgrundbesitzer, die inzwischen auch in anderen Wirtschaftsbereichen tätig sind, über Politik und Justiz. Traditionelle Großfamilien und dörfliche Nachbarschaften existieren kaum. In dieser atomisierten und instabilen Gesellschaft können kriminelle Banden relativ einfach jungen Männern Geld und Jobs sowie auf Gewalt gegründete Macht anbieten und lokalen Eliten ein Zubrot. In der Hauptstadt Quito sind die Banden nur in einigen besonders marginalisierten Vierteln präsent, während die Küstenmetropole Guayaquil fest im Griff der Drogenmafias ist.
Autor
Frank Braßel
ist Historiker und Journalist. Er hat unter anderem für die Menschenrechtsorganisation FIAN und die Hilfsorganisation Oxfam gearbeitet.Etwa zwei Dutzend Banden mit mindestens 30.000 Mitgliedern sind in Ecuador das Fußvolk des Drogenhandels. Wichtiger für das Geschäft sind aber die Kartelle aus Mexiko, Kolumbien und Albanien (mit engen Beziehungen zur italienischen Ndrangheta) sowie die lokale Wirtschaft und Politik. Auf mindestens 3,5 Milliarden US-Dollar wurde für 2021 der Umfang der Geldwäsche im Land geschätzt. Dies erklärt einen Teil der Investitionen in teure Immobilienprojekte und die sprudelnden Gewinne der Privatbanken. Und es bleibt ausreichend Geld, um Menschen in Politik, Polizei und Justiz zu kaufen.
Dem Drogenhandel Vorschub geleistet hat auch der mehrfache Ab- und Umbau staatlicher Sicherheitsstrukturen. So wurde 2009 eine erfolgreiche spezielle Untersuchungsgruppe der Polizei aufgelöst, weil sie dem damaligen Präsidenten Correa zu eng mit den US-Behörden zusammenarbeitete. Und Präsident Noboa wollte das Innenministerium mit dem Präsidialamt (Ministerio de Gobierno) verschmelzen lassen, was er erst kürzlich nach vielfältiger Kritik zurücknahm. Die Gefängnisse wurden den Drogenbanden überlassen. Staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und öffentliche Infrastruktur wurden seit der Endphase der Regierung von Rafael Correa (2007–17) wegen sinkender Ölpreise gekürzt, verstärkt unter den schwachen und zunehmend neoliberalen Regierungen seiner Nachfolger Lenín Moreno und Guillermo Lasso.
„Ehemalige Compañeros sind auf einmal auf der anderen Seite“
Die sozialen Bewegungen im Land wurden von der brutalen Gewalt der Drogenbanden überrascht und stehen dem teils hilflos gegenüber. Anders als im benachbarten Kolumbien kannte man in Ecuador nur in Ausnahmefällen gezielte Verfolgungen der Zivilgesellschaft. Inzwischen wird ihr Zugang zu ländlichen und städtischen Armutsregionen durch die Banden vielfach beschränkt, sie werden bedroht und ihre lokalen Führungspersönlichkeiten vertrieben. Denn sie stehen der Kontrolle der Banden über Territorien im Weg.
Zudem dringen die Drogenmafias teils in die Bewegungen selbst ein. „Die Banden haben Leute vertrieben“, sagt Marianeli Torres von der Nationalen Koordination der Verteidigung der Mangroven aus Esmeraldas. „Viele Gemeinden können wir nicht mehr erreichen. Und vielleicht am schlimmsten ist, dass man manchmal nicht mehr weiß: Wer ist eigentlich wer? Ehemalige Compañeros sind auf einmal auf der anderen Seite.“
Zunehmend übernehmen Mafiagruppen auch die Schmutzarbeit für Unternehmen. Im Oktober 2023 erhielten führende Personen der Bananengewerkschaft ASTAC Morddrohungen mit der Ankündigung: „Wenn ihr weiterhin die Bananenunternehmen belästigt und für die Rechte der Arbeitenden eintretet, legt ihr euch mit der größten Mafia des Landes an, Los Choneros.“ Ähnliche Querverbindungen wurden aus Konflikten um Ölpalmplantagen in Esmeraldas und Bergbauprojekte im Amazonasgebiet berichtet. Das deutsche Hilfswerk Misereor will nun einen Austausch unter Partnerorganisationen in Gang setzen und die Erfahrungen kolumbianischer Organisationen über den Schutz der Mitarbeitenden und Partnergruppen nutzen.
Linke wie rechte Politiker von Angriffen betroffen
Auch Parteipolitiker geraten ins Visier. Im Wahljahr 2023 wurden 33 Morde an 92 Abgeordneten und Kandidaten registriert, darunter der am Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio. Linke wie rechte Politiker und Politikerinnen waren von Angriffen etwa gleich betroffen, viele auf lokaler Ebene. Der Großteil der Verbrechen bleibt straffrei, die Sicherheitsbehörden greifen nur in Einzelfällen ein. In einzelnen Regionen haben sich deshalb eigenständige Formen des Widerstandes entwickelt. In indigenen Territorien verteidigen traditionelle „Guardias Indigenas“ ihr Land, in erster Linie gegen Holzfäller und illegalen Bergbau, und haben sich auch gegen Kriminelle und Drogenbanden als relativ wirksam erwiesen.
Auch in manchen Städten kommt es zu militanten Abwehraktionen. „Auf dem Markt tauchten Leute auf, die Schutzgelder erpressen wollten“, berichtet ein NGO-Mitarbeiter aus Cuenca. „Sie wurden festgehalten und der Polizei übergeben, doch am nächsten Tag waren sie wieder frei. Nachdem das ein paar Mal passiert war, griffen einige Leute zu einschneidenderen Maßnahmen: Einige der Gauner wurden am nächsten Morgen tot vor dem Markt gefunden. Seitdem ist die Situation unter Kontrolle.“
Siedlungsbewohner treffen Absprachen mit den Banden
Wo die Gemeinden weniger gut organisiert sind, handeln Bewohner trotzdem manche Fragen mit den Banden aus. „Wenn wir eine Aktion planen, zum Beispiel zur besseren Wasserversorgung, sprechen wir uns mit den Banden ab“, sagt ein Führer der Besetzerbewegung in Monte Sinai, einer der marginalisierten Siedlungen im Norden von Guayaquil. „Sie haben nicht grundsätzlich etwas gegen solche Aktivitäten, damit kommen wir ihnen ja nicht in die Quere, aber sie wollen vorher informiert werden.“ Er bezieht sich auf die Choneros, die den Monte Sinai mit seinen etwa 300.000 Bewohnern kontrollieren. Pro Behausung müssen alle zwei Dollar Schutzgeld pro Woche zahlen, Geschäftsinhaber mehr; wer nicht zahlt, riskiert sein Leben.
Präsident Daniel Noboa tritt martialisch auf
Große Teile der ecuadorianischen Bevölkerung sind ob der Gewalt traumatisiert und haben deshalb den Kurs des seit November 2023 amtierenden Präsidenten Daniel Noboa unterstützt, die Drogenkriminalität in erster Linie militärisch zu bekämpfen. Noch während der unblutig verlaufenen Besetzung eines Fernsehstudios durch eine vermeintliche Drogenbande am 9. Januar rief Noboa die Streitkräfte zum Kampf gegen den „Terrorismus“ auf, namentlich gegen 22 Drogenbanden. Von einem Tag auf den anderen führte das Militär Razzien in den Gefängnissen durch. Der Ton und das Auftreten des smarten Noboa sind seitdem martialisch. Das „neue Ecuador“ werde mit „dem Terrorismus“ aufräumen, verlautet er tagtäglich.
Die Zahlen geben ihm nicht recht. Nach einem kurzen Rückgang nehmen die Morde wieder zu, die Entführungsrate hatte im ersten Quartal 2024 einen Höhepunkt. Eine Perspektive für die zeitweise von der Armee „befriedeten“ Gefängnisse gibt es nicht. Zugleich reagiert der Staat zunehmend brutal auf sozialen Protest und denunziert ihn als Terrorismus – sei es Protest gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 12 auf 15 Prozent zur Finanzierung des „Krieges“ oder wenn Indigenas ihr Land gegen Bergbaukonzerne verteidigen.
Doch eine Mehrheit der ecuadorianischen Wählerinnen und Wähler setzt auf militärisches Durchgreifen, wie die Ergebnisse des vom Präsidenten angesetzten Referendums vom 21. April zeigen: Die Präsenz der Streitkräfte auf den Straßen, strengere Strafen und die Auslieferung von Straftätern wurden gebilligt. Gleichzeitig unterlag Noboa aber mit seinen Vorschlägen, Ein-Stunden-Arbeitsverträge einzuführen und zu privaten Schiedsgerichten für internationale Investoren zurückzukehren. Das Wahlvolk möchte offenbar Sicherheit, aber auch in sozialen Fragen – gegen die rein marktorientierten Konzepte des Präsidenten. Der Lösung der Drogen- und Sicherheitskrise, die ohne soziale Reformen schwer vorstellbar ist, ist Noboa mit dem Referendum kaum nähergekommen.
Verbindung zur Regierung schützt vor Anklagen
Die eng mit Noboa verbundene Generalstaatsanwältin Diana Salazar hat mehrere große Anklagen gegen Juristen und ehemalige Abgeordnete wegen Korruption und Verbindungen zum Drogenmilieu erhoben. Aber verdächtigte Politiker und Wirtschaftsmagnaten, die eng mit der vorherigen und der heutigen Regierung verbunden sind, werden bislang nicht verfolgt. So der ehemalige Landwirtschaftsminister Bernardo Manzano, ein führender Manager des Noboa-Konzerns; in Bananenkartons, auch von Noboa, wird in der EU regelmäßig Kokain gefunden. Vor zwei Jahren hat ein Audit der GIZ für das Landwirtschaftsministerium bestätigt, dass das Register der Bananenplantagen extrem fehlerbehaftet ist: Etwa 14 Prozent der ecuadorianischen Bananenkisten, eine Million pro Woche, können über Scheinfirmen exportiert werden, was Betrug und Schmuggel Tür und Tor öffnet. Geändert hat sich seitdem nichts. Die Bananenindustrie beeinflusst seit Jahrzehnten sehr erfolgreich die lokale Politik, Präsident Noboa ist der Erbe eines der erfolgreichsten Unternehmen mit einer langen Historie von Rechtsverstößen.
Um das Drogenproblem zu lösen, „brauchen wir die Unterstützung der reichen Länder“, sagt Leonidas Iza, der Vorsitzende des Indigena-Dachverbandes Conaie. „Wenn die USA und Europa den dortigen Drogenkonsum kontrollieren würden, wäre das sehr viel. Sie sagen uns aber lieber, was wir tun sollen.“ So bemängeln nationale wie internationale Experten, dass nicht alle Container in Ecuadors Häfen durch Drogenscanner laufen. Doch in Europas Häfen werden laut Europol nur zehn Prozent aller Container aus Lateinamerika kontrolliert, weil sonst der Warenfluss zu sehr verlangsamt würde.
Der Markt für Kokain ist lukrativ und wächst. Laut Fachleuten steigert der Transport von Lateinamerika nach Europa den Preis um mehr als das Zehnfache. Viele gute Gründe für die EU, in einen ernsthaften Dialog mit den 19 lateinamerikanischen Staaten zu treten, die im September 2023 im kolumbianischen Cali über ein neues Paradigma der Drogenbekämpfung diskutiert haben. Den „Krieg gegen die Drogen“ betrachten sie als gescheitert und fordern einen integralen Ansatz, der „strukturelle Gründe wie Ungleichheit, Armut, Fehlen von Möglichkeiten und Gewalt“ aufnimmt. Eine solche Debatte wäre auch in Ecuador selbst dringend notwendig.
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