Der Trend hält an: Immer mehr Regierungen schränken den Spielraum für soziale Initiativen und Organisationen ein. Das stellt die gerade von Brot für die Welt veröffentlichte Ausgabe 2024 des Atlas der Zivilgesellschaft fest. Danach lebten 2023 rund 86 Prozent der Weltbevölkerung unter mehr oder weniger starker Repression: Handlungsräume von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Medien sind „beschränkt“ wie in Indonesien, Ungarn und Marokko, „unterdrückt“ wie in Indien, Ruanda und der Türkei oder gar völlig „geschlossen“ wie in China, Russland und Saudi-Arabien.
Diesem Trend zum Autoritarismus entgegenzuwirken war das Ziel der Global Assembly, die im Mai 2023 in der Frankfurter Paulskirche eröffnet wurde. 45 erfahrene Menschenrechts-, Friedens- und Umweltaktivisten aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa wollten miteinander und mit deutschen Partnern Wege suchen, wie angesichts der Verschärfung von Autoritarismus und nationaler Machtpolitik die Menschenrechte global gedacht und verwirklicht werden können. In Arbeitsgruppen haben sie rund neun Monate über fünf Problemfelder diskutiert: Autoritarismus und Demokratie, Gendergerechtigkeit, Flucht und Migration, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und sozial-ökologische Krisen. Ihre Ideen, wie man Rückschritte bremst und Fortschritte erreicht, sollten Mitte März vorgestellt werden – wieder mit großer Öffentlichkeit in der Paulskirche.
Doch jetzt haben die deutschen Organisatoren das abgesagt. Die Begründung des Initiativkreises, zu dem acht Engagierte aus deutschen Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen, Medien und politischen Stiftungen gehören: Nach den Terroranschlägen der Hamas vom 7. Oktober werde in Deutschland der Vorwurf des Antisemitismus benutzt, um jeder Kritik an Israels Reaktion auf diesen Angriff die Legitimität abzusprechen, sie „indirekt zu zensieren“. In diesem Klima sehe man keine Möglichkeit mehr, offen auch über „abweichende und aus deutscher Sicht womöglich provozierende Positionen“ zu diskutieren, und fürchte Angriffe auf die Arbeit mit den Partnern im globalen Süden.
Angst, dass Israel und Gaza alles andere überlagert
Musste die Absage wirklich sein? Fragt man bei einigen Beteiligten nach mit der Zusicherung, niemanden namentlich zu zitieren, dann zeigt sich: Alle haben sich die Entscheidung schwer gemacht, aber nicht alle sehen es genauso wie der Initiativkreis, der den Anstoß zur Global Assembly gegeben hatte. Getragen wurde die dann von neun Organisationen, darunter Brot für die Welt und medico international sowie die Friedrich-Ebert-, die Heinrich-Böll- und die Rosa Luxemburg-Stiftung. Die 45 ausländischen Aktivistinnen und Aktivisten kommen aus Partnerorganisationen der Träger im Süden und Osten.
Träger wie Initiatoren fürchteten, dass sie im gegenwärtigen Diskussionsklima mit Strategien gegen Autoritarismus nicht durchdringen. Das Thema Israel und Palästina lässt sich ja aus Diskussionen über Menschenrechte nicht ausblenden, und in mindestens einer der Arbeitsgruppen haben die Engagierten aus dem Süden beklagt, der Westen messe beim Krieg in Nahost mit zweierlei Maß.
Konnte man dann nicht vereinbaren, dass sie das in einer Weise vortragen, die Antisemitismus-Vorwürfen vorbeugt, zum Beispiel das Reizwort Genozid meidet? Nein, man wolle den Partnern doch keine Sprachvorschriften machen, heißt es dazu. Zudem würde es nicht helfen, weil einflussreiche Medien und Prominente in Deutschland jede Israelkritik in Antisemitismus umdeuten würden. Ein Träger allerdings hat hiervor weniger Angst, man werde sowieso ständig beobachtet; er sah das größte Risiko darin, dass Demonstrationen aus dem Publikum einen Skandal auslösten.
Lieber gar nicht als ohne Öffentlichkeit
Die Träger wollten die Abschlussveranstaltung der Global Assembly in Frankfurt abhalten, aber nicht öffentlich. Doch der Initiativkreis fand das sinnlos, weil dann die Veranstaltung ihren Zweck verfehlt hätte: Man könne nicht Dutzende Aktivisten für viel Geld einfliegen lassen, damit sie die Ergebnisse ihrer Debatten nur intern besprechen. Daher hat der Kreis die Veranstaltung ganz abgesagt.
Die meisten der Organisatoren sahen sich offenbar in der Zwickmühle, entweder einen Shitstorm wegen israelkritischer Äußerungen zu riskieren oder einen Rückzieher zu machen. Sie haben das zweite gewählt und so ihre Partner in Süd und Ost vor einem möglichen Skandal hier bewahrt. Doch die Aktivisten aus dem Ausland fanden, soweit man hört, die Absage nicht gut. Die meisten wären zu einer nicht öffentlichen Tagung bereit gewesen, doch manche fragten irritiert, ob das Thema Autoritarismus in Deutschland nicht mehr wichtig sei. Die Absage dürfte so auch die Partnerschaft zwischen den Trägerorganisationen und den Aktivistinnen und Aktivisten belasten.
Die gehen mit ihrem Einsatz in ihren Heimatländern viel mehr Risiken ein, als die deutschen Veranstalter es mit einer öffentlichen Global Assembly getan hätten. Der neue „Atlas der Zivilgesellschaft“ stuft zwar den Spielraum in Deutschland von „offen“ zu „eingeschränkt“ herunter – unter anderem wegen übermäßiger Beschränkungen von Demonstrationen. Aber er ist viel größer als in den meisten Ländern, der Rechtsstaat ist gewahrt. In der Medienlandschaft kommen israelkritische Meinungen vor, das räumen Veranstalter der Global Assembly ein. Doch sehr bedenklich ist, dass politische Debatten, nicht nur zu Nahost, bei uns zunehmend vom Prinzip Skandalisierung bestimmt sind und vom Bestreben, säuberlich Gut und Böse zu trennen und dabei sich selbst als Gute zu sehen. Da wird schnell zum Angriffsziel, wer die Grautöne und Widersprüche der Wirklichkeit aufzeigt und mit Stimmen aus dem Süden das Selbstbild der Guten in Frage stellt.
Widerspruch wäre dringend gefragt
Umso wichtiger wäre es, genau das zu tun. Daher hat der israelische Historiker Moshe Zimmermann mit Unverständnis auf die Absage reagiert. Er schreibt, zwar gebe es in Deutschland „‘Antisemiten’-Jäger“, die eine „Maulkorb-Taktik“ verfolgten. Doch denen müsse man entgegentreten und klarstellen, dass Kritik an Israel und an Israels heutiger Regierung nicht als antisemitisch abqualifiziert werden dürfe, sofern sie nicht judenfeindliche Klischees benutze. Aus Angst vor falschen Vorwürfen die Diskussion abzusagen, zeuge „nicht von allzu großer Courage“. Stefan Hebel, ein Mitglied des Initiativkreises, hat das in der „Frankfurter Rundschau“ im Grunde eingeräumt: Man „mag das ängstlich nennen“.
Haben also Initiatoren und Träger der Global Assembly vorbeugend kapituliert? Nein, sagen sie und verweisen etwa darauf, dass sie die Ergebnisse einzelner Arbeitsgruppen später vortragen wollen, etwa zu Frauenfeindlichkeit. Einzelne Träger werden zudem mit ihren Partnern über die aufgeworfenen Fragen diskutieren. Welche Wirkung das über die Organisationen hinaus hat, ist aber völlig offen. Das große Projekt der Global Assembly ist wohl vorerst gestorben.
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