Das Pendel schwingt zurück

Cristina Dorador/wikimedia
Dass Elisa Loncón (vorne rechts), eine Linguistin vom indigenen Volk der Mapuche, zur Präsidentin der ersten verfassungsgebenden Versammlung gewählt wurde, war ein Signal. Links daneben ihr Stellvertreter, der Jurist Jaime Bassa.
Was tut sich in ... Chile?
Vor gut einem Jahr haben die Chileninnen und Chilenen den Entwurf einer ökologischen, feministischen und inklusiven Verfassung per Volksabstimmung abgelehnt. Am 17. Dezember stimmen sie über einen neuen, deutlich weniger progressiven Entwurf ab. Laut Umfragen fällt auch er durch.

Zwar hatten die Chilenen im Oktober 2020 mehrheitlich dafür gestimmt, die Verfassung von 1980 aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet auszutauschen. Aber 2022 zeigten sie sich nicht bereit für einen neuen Verfassungsentwurf, der die Rechte von indigenen Völkern, Frauen und sexuellen Minderheiten ebenso wie von Tieren und der Natur anerkannte. Nach dem Scheitern dieses Verfassungsentwurfs begann der Prozess von Neuem. 

Eine Expertenkommission der im Parlament vertretenen Parteien schrieb einen weiteren Entwurf, der von einem vom Volk gewählten Verfassungsrat überarbeitet wurde. In diesem neuen Verfassungsrat hatte nun die Ultrarechte eine Mehrheit – und schrieb den Entwurf der Expertenkommission nach ihren Vorstellungen um. Dabei sei ein „im Konsens entstandenes Projekt deformiert worden“, sagt der Schriftsteller Jorge Baradit, der Mitglied der ersten verfassungsgebenden Versammlung war. Über das Ergebnis stimmen die Chilenen am 17. Dezember ab. 

Warnung vor einem zivilisatorischen Rückschritt

Mit der Feder von Präsident Salvador Allende, als Symbol eines neuen Chiles, hatte Baradit bei der Eröffnung des Verfassungskonvents am 4. Juli 2021 seine Unterschrift unter den Verfassungsakt gesetzt. Heute ist er davon überzeugt, „dass es keine andere Möglichkeit gibt, als gegen den neuen Entwurf zu stimmen, der schlimmer ist als die Verfassung der Diktatur“. Der Text sei von der „konservativen chilenischen Elite“ geschrieben worden, die „die sozialen Rechte der Bevölkerung leugnet und einem demokratischen Sozialstaat ein Ende setzen will“. Baradit warnt vor einem zivilisatorischen Rückschritt, bei dem zum Beispiel den Frauen das Recht über ihren Körper genommen und privatwirtschaftliche Interessen höher bewertet werden sollen als Bildung, Gesundheitswesen und Umwelt.

Autorin

Margarita Pastene

ist freie Journalistin und lebt in Chile.

Ähnlich sieht es die Biologin und Umweltwissenschaftlerin Cristina Dorador, die ebenfalls Mitglied der ersten verfassungsgebenden Versammlung war: „Die chilenische Rechte will Chile nicht in seiner Vielfalt, sie will ein auf sie zugeschnittenes Land, in dem sie ihre auf Missbrauch und Angst basierenden Geschäfte weiterführen kann. Sie wollen ihre Religiosität und konservativen Werte durchsetzen.“ 

Von der sozialen Revolte zum konservativen Verfassungsrat

Politische Analysten versuchen nun zu verstehen, wie es möglich war, dass das Pendel politischer Präferenzen innerhalb von drei Jahren von einer sozialen Revolte über die Ablehnung eines progressiven Verfassungsentwurfs bis hin zur Wahl eines extrem konservativen Verfassungsrats ausschlagen konnte. Der nun vorliegende Text, so Baradit, „fördert genau jene neoliberale Politik, die im Oktober 2019 die Ursache für die soziale Revolte war“.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem vom Oktober scheint jetzt aber auch dieser Verfassungsentwurf unbeliebt zu sein. Nur 43 Prozent der Wähler des extrem rechten Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast (er hatte die Stichwahl im Dezember 2021 gegen den heutigen Präsidenten Gabriel Boric deutlich verloren) wollen für diesen Entwurf stimmen, 42 Prozent dagegen. Von Borics damaligen Wählern dagegen wollen 72 Prozent den Verfassungsentwurf ablehnen und nur 17 Prozent ihm zustimmen. Das Pendel scheint also wieder nach links zu schwingen, und vieles deutet darauf hin, dass auch nach dem 17. Dezember die Pinochet-Verfassung bis auf weiteres in Kraft bleibt – bis zum nächsten Versuch.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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