Es ist dieser eine Moment im Schlauchboot auf dem Mittelmeer, an den sich Moussa M’Barek immer wieder erinnert. Das Schiff der italienischen Küstenwache nähert sich, um sie aufzugreifen, und die Leute neben ihm werfen ihre Pässe über Bord. Inzwischen weiß er, dass sie damit verhindert wollten, in ihre Herkunftsländer abgeschoben zu werden. Aber damals, vor acht Jahren, wollte er seinen Augen nicht trauen. So lange hatte er versucht, einen Pass, eine Staatsangehörigkeit zu bekommen, ohne Erfolg. Und jetzt sah er Männer und Frauen, die ihre Pässe einfach so wegwarfen!
Moussa M’Barek kommt aus Ubari, einer Kleinstadt in der libyschen Sahara. Er ist ein Tuareg, ein früher nomadisch lebendes, heute zumeist sesshaftes Berbervolk, das über die Staaten der Zentralsahara und des Sahel verstreut ist. Dem libyschen Staat hat M’Barek allerdings nie angehört, unter Diktator Muammar Al-Gaddafi nicht und auch nicht nach dessen Sturz im Jahr 2011. Schon seine Eltern waren staatenlos, er hat den Status von ihnen geerbt. Damit gehört er zu den weltweit rund vier Millionen Menschen ohne Staatsangehörigkeit, die das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR für 2022 erfasst hat. Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher liegen.
Staatenlosigkeit hat weitreichende Folgen für die Betroffenen. In vielen Ländern des globalen Südens ist ihnen der Zugang zu höherer Bildung und medizinischer Versorgung verschlossen. Meist haben sie keine Geburtsurkunde und können später nicht offiziell heiraten. Sie können keinen Führerschein machen, nicht einmal ein Bankkonto eröffnen. Viele Staatenlose führen ein Leben in der Illegalität, oft in informellen Siedlungen am Rande von Städten.
Unterschiedliche Gründe für Staatenlosigkeit
Gemäß internationalem Recht gilt als staatenlos, wer von keinem Staat als Staatsangehöriger angesehen wird. Jedes Land hat eigene Gesetze, die festlegen, wer Anspruch auf die Staatsbürgerschaft hat. In den meisten Ländern wird sie mit der Geburt erworben, entweder indem Eltern sie auf ihre Kinder übertragen oder indem Kinder sie automatisch dort erhalten, wo sie geboren wurden.
„Die Gründe für Staatenlosigkeit sind unterschiedlich“, sagt Fiorella Rabuffetti, die an der Universität von Ottawa in Kanada zu dem Thema forscht. „Dazu gehören Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Sprache und Geschlecht – wenn Kinder nur die Staatsangehörigkeit des Vaters erben können – oder Lücken in den nationalen Gesetzen.“ Es kann auch zu Staatenlosigkeit kommen, wenn Staaten aufhören zu existieren, wie etwa beim Zerfall der Sowjetunion oder Jugoslawiens, erklärt Rabuffetti. „Die Nachfolgestaaten legen Wert auf ein möglichst homogenes Staatsvolk, also erschweren sie unliebsamen Minderheiten die Zugehörigkeit.“
Manchmal, sagt Rabuffetti, kennen die Betroffenen die Regeln und Gesetze nicht; vor allem in neu gegründeten Staaten sei das häufig der Fall. Oder sie seien mit der Bürokratie und dem Umgang mit Behörden überfordert. Sie versäumen Fristen zur Registrierung, und eine weitere Gelegenheit ergibt sich dann nicht mehr. Anderen sei der Sinn und Zweck der Registrierung nicht bewusst, so Rabuffetti, das sei bei indigenen Gesellschaften manchmal so. „Es gibt auch Fälle, in denen sich Eltern bewusst dafür entscheiden, ihre Kinder nicht bei staatlichen Stellen registrieren zu lassen, etwa wenn sie einer verfolgten Minderheit angehören und sie ihre Kinder vor Übergriffen der Behörden schützen wollen.“ Die Rohingya in Myanmar seien hierfür ein Beispiel.
Bürger zweiter Klasse
Moussa M’Barek galt in seinem Dorf in der libyschen Sahara immer als Bürger zweiter Klasse. Die Tuareg waren für die arabische Mehrheit immer das rückständige Berbervolk, erinnert er sich. Der damalige Machthaber Al-Gaddafi habe ihnen die Staatsbürgerschaft versprochen, wenn sie im Militär dienen, erzählt M’Barek. Doch daran habe sich der Diktator nicht gehalten. Und auch unter der neuen Regierung habe er keine Chance auf Einbürgerung. „Meine Eltern haben bei meiner Geburt nur eine Art Bestätigung bekommen, keine offizielle Geburtsurkunde. Doch die neue Regierung verlangt Geburtsurkunden, um Staatsangehörigkeiten zu erteilen.“
2015 entschließt sich M’Barek, die Sahara zu verlassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Hauptstadt Tripolis. Doch bald erkennt er, dass auch im neuen Libyen kein Platz für die Tuareg ist. Er entschließt sich zur Flucht über das Mittelmeer – wie unzählige andere Migranten aus Afrika, die es bis an die libysche Küste geschafft haben.
Die Bidun gelten in Kuwait als illegale Einwohner
Auch Hamad Al-Nasser (Name geändert) war nie im Besitz einer Staatsangehörigkeit. Er gehört den Bidun an, einer Minderheit in Kuwait[ET(7] . Etwa 200.000 Bidun leben schätzungsweise in dem Emirat am Persischen Golf. Bei nur etwa 1,3 Millionen Einwohnern stellen sie damit immerhin rund 15 Prozent der Bevölkerung. Ihr offizieller Status ist „illegal residents“, also illegale Einwohner. Sie sind Bürger zweiter Klasse in Kuwait.
Das Wort Bidun leitet sich her vom arabischen Begriff „bedoon jinsiya“, übersetzt: ohne Nationalität. Ursprünglich waren sie Beduinen in der Grenzregion zwischen Kuwait und dem südlichen Irak. Als sich Kuwait 1961 von der britischen Kolonialmacht löste, versäumten es viele der Nomaden, sich als Bürger des neuen Staates eintragen zu lassen. So blieben sie zunächst ohne Staatsbürgerschaft in ihrer Heimat.
Anfangs war das kein Problem. Das änderte sich mit dem 2. August 1990, als die Truppen des irakischen Diktators Saddam Hussein in Kuwait einfielen. „Seitdem sind der Regierung Menschen mit irakischen Wurzeln suspekt“, sagt Hamad Al-Nasser. Er selbst sei in Kuwait geboren, wie sein Vater und sein Großvater. Vor fünf Generationen sei ein Vorfahr der Familie aus dem heutigen Irak nach Kuwait gekommen. „Das war vor über hundert Jahren“, sagt Al-Nasser, „und trotzdem bekomme ich deswegen keine kuwaitische Staatsangehörigkeit.“
Die Bidun sind von öffentlichen Dienstleistungen ausgeschlossen
Kuwait verfügt über acht Prozent der weltweiten Ölreserven. Seine Staatsbürger profitieren davon: Die Gesundheitsversorgung ist kostenlos, ebenso das Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss. Die Bidun sind von diesen Vorzügen ausgeschlossen. Krankenhäuser lehnen es ab, sie zu behandeln, es sei denn, sie können es aus eigener Tasche bezahlen. Doch das kann sich kaum ein Bidun leisten. „Sie schicken uns in eine Apotheke, damit wir uns selbst behandeln“, sagt Al-Nasser.
Für ihn hat das schlimme Folgen. Er leidet an einer Autoimmunkrankheit, die seine Wirbelsäule versteift und in seine Beine ausstrahlt, wo sie Lähmungen auslöst. Und sein neun Jahre alter Sohn leidet an einer gefährlichen Form von Epilepsie, die dringend behandelt werden müsste. Al-Nasser hat Kontakt zu Kliniken in Ägypten und der Türkei aufgenommen, die zugesagt haben, seinen Sohn und auch ihn selbst zu behandeln. Doch die kuwaitischen Behörden verweigern ihnen die Ausreise.
Vor acht Jahren, sein Sohn war noch ein Baby, versucht er, dem Teufelskreis auf eigene Faust zu entkommen. Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern besticht er einen Behördenmitarbeiter, der ihnen Reisepässe mit Studienvisa für die USA ausstellt, die sie als Bidun andernfalls nicht bekommen hätten. Monatelang hatte er hart gearbeitet, um die Bestechungssumme aufzubringen und den Flug zu bezahlen. „Ich hatte nur diesen einen Versuch“, erinnert er sich. „Noch mal hätte ich das Geld nicht aufbringen können.“
Kein Land gewährt Hamad Al-Nasser Asyl
Bei der Ankunft in New York bittet er um Asyl, doch die amerikanischen Behörden verweigern ihm den Aufenthalt über das Studentenvisum hinaus. „Sie sagten, ich habe ein Flugticket bezahlen und ausreisen können, also könne es mir doch nicht so schlecht gehen.“ Immerhin empfehlen sie ihm, es in Kanada zu versuchen, dort müsse er nur eine Kontaktperson vorweisen, um zumindest vorübergehend ins Land gelassen zu werden. Doch auch die kanadischen Behörden erklären sich für nicht zuständig und schicken ihn zurück nach New York.
Dort werden Hamad und seine Brüder in ein Flugzeug zurück nach Kuwait gesetzt. Bei einem Zwischenstopp in London bittet er erneut um Asyl, während seine Brüder beschließen, zurück nach Kuwait zu reisen. Doch auch die britischen Behörden lassen ihn nicht ins Land.
Bei seiner Rückkehr nach Kuwait wird er sofort nach der Landung verhaftet. Im Gefängnis des Polizeipräsidiums trifft er auf seine Brüder und seinen Vater. Sie werden gefoltert; man droht, sie für 20 Jahre in eine Zelle zu sperren, sollten sie erneut aufgegriffen werden. Hamad Al-Nasser hat die Spuren der Folter nach seiner Entlassung in einem Video dokumentiert: gebrochene Arme, klaffende Wunden an den Zehen, Blutergüsse an den Beinen und auf den Fußsohlen.
Behörden schlecht vorbereitet auf Umgang mit Staatenlosen
In vielen Staaten fehlten Verfahren, um staatenlose Menschen zu identifizieren und sie als solche anzuerkennen, sagt Chris Nash, Direktor des European Network on Statelessness mit Sitz in London. Ähnlich wie in einem Asylverfahren müssten die Angaben der Betroffenen geprüft werden, um herauszufinden, ob jemand Staatsbürger eines bestimmten Landes ist oder nicht. „Dabei geht es darum, Geburtsurkunden zu finden oder Verwandtschaftsverhältnisse aufzudecken“, sagt Nash. Werde die Staatenlosigkeit festgestellt, könne eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden, die dann auch mit Ansprüchen auf Sozialleistungen gekoppelt sein sollte. „Spanien oder Großbritannien haben solche Verfahren inzwischen eingeführt“, erklärt Nash. „Deutschland hinkt leider noch hinterher.“
Deutsche Behörden scheinen auf den Umgang mit Menschen ohne Staatsangehörigkeit nicht vorbereitet zu sein. Diesen Eindruck hatte jedenfalls Moussa M’Barek, als er 2016 nach Deutschland kam und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorstellig wurde. „Sie haben von mir eine Negativbescheinigung der libyschen Botschaft verlangt, also eine Bestätigung, dass ich kein libyscher Staatsbürger bin“, erinnert er sich. „Aber die Botschaft sagte mir, sie können mir nichts ausstellen, weil sie keine Unterlagen von mir haben. Das aber hat den deutschen Behörden nicht gereicht.“
Seit 2020 hat er in Deutschland zumindest einen Status als Geduldeter. Und er hat seine Liebe zur Kunst entdeckt. Die Möglichkeit, sein Leben, seine Geschichte in Kunstform zu erzählen, begeistere ihn, sagt M’Barek. Mittlerweile hat er seine Werke – Bilder, Skulpturen und Texte – in mehreren Ausstellungen rund um Dresden präsentiert. Und einen libyschen Pass hat er inzwischen auch: einen selbst gemachten, ausgestellt von einem Staat namens Free Libya und gefüllt mit Interviews mit anderen Staatenlosen und kopierten Verordnungen und Erlassen deutscher Behörden.
Frank Odenthal ist freier Journalist und lebt in Lörrach. Er schreibt vor allem über Umweltschutz und Menschenrechte und bereist regelmäßig Afrika und den arabischen Raum.
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