Wer an Österreichs Grenzen einen Asylantrag stellt, braucht vor allem eines: Geduld. Bis das Zulassungsverfahren beginnt, müssen Schutzsuchende viele Fragen beantworten, die von einem überlasteten Verwaltungsapparat übersetzt, bearbeitet und beurteilt werden müssen. Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind währenddessen auf sich allein gestellt, sie harren wie die Erwachsenen in Aufnahmezentren aus, haben keine Sorgeberechtigten, sie können keine Schule besuchen und werden kaum betreut. Die meisten von ihnen sind zwischen 14 und 18 Jahre alt, über 90 Prozent männlich.
Viele von ihnen schmieden in dieser Zeit andere Pläne: Im vergangenen Jahr sind in Österreich 11.613 minderjährige Flüchtlinge verschwunden. Aktuelle Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Situation weiter zuspitzt: In der ersten Hälfte des Jahres 2023 haben 1961 unbegleitete geflüchtete Minderjährige einen Asylantrag in Österreich gestellt, im gleichen Zeitraum sind 2075 geflüchtete Kinder und Jugendliche verschwunden. Das Problem ist seit Jahren bekannt, ein Vorschlag des Justizministeriums, den Missstand zu lindern, liegt seit knapp zwei Jahren vor, kommt aber nicht voran..
Erst wenn Jugendliche von den Aufnahmezentren in eine Betreuungseinrichtung der Länder überstellt werden, kann das jeweilige Jugendamt die Fürsorge übernehmen; erst dann können Organisationen die Fluchtwaisen sozial und psychologisch betreuen. 2022 dauerte das im Schnitt 131 Tage; Österreich ist damit europaweit Schlusslicht, kritisieren Asyl- und Menschenrechtsorganisationen. In Deutschland etwa müssen die Betroffenen innerhalb von zwei Wochen in eine Einrichtung der Bundesländer überstellt werden. Während dieser Zeit werden sie in die vorläufige Obhut des Jugendamts genommen.
In Österreich sind minderjährige Flüchtlinge in dieser Zeit ohne Fürsorge und viele „entziehen“ sich dem Verfahren, wie es im Jargon des Innenministeriums heißt. „Niemand weiß genau, wohin unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verschwinden, weil dem niemand genauer nachgeht“, kritisiert Lisa Wolfsegger, Expertin für Fluchtwaisen bei asylkoordination österreich, im Gespräch mit „welt-sichten“. Viele würden zu Verwandten in andere EU-Länder weiterreisen, andere verließen das Land, weil Gerüchte kursierten, etwa dass Österreich prinzipiell keine Afghanen aufnähme.
Aufnahmestellen sind chronisch unterfinanziert
Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Österreich ist etwa ein Drittel der 2022 in Österreich verschwundenen Jugendlichen in anderen EU-Ländern wieder aufgetaucht. Der Verbleib der anderen ist unklar. Es sei nicht auszuschließen, dass sie „Opfer von Menschenhandel, Ausbeutung oder anderen Formen von Missbrauch geworden sind“, kritisiert Amnesty International auf Nachfrage. Das Innenministerium wollte sich auf wiederholte Nachfrage nicht dazu äußern.
Asyl- und Menschenrechtsorganisationen fordern seit Jahren, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge schneller in Einrichtungen der Bundesländer überstellt werden müssten. Doch diese sind chronisch unterfinanziert und können kaum Menschen aufnehmen; der Betrag von maximal 95 Euro pro Person und Tag, den sie vom Bund erhalten, wurde seit 2016 nicht an die Inflation angepasst. Für eine angemessene Betreuung reiche ein solcher Betrag unmöglich aus, kritisiert Amnesty International. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Tagessatz für österreichische Kinder in Heimen liegt laut Amnesty International bei 170 Euro.
Ein Gesetzesentwurf des Justizministeriums liegt bereits seit Ende 2021 vor. Darin heißt es, die Fürsorge der Kinder soll ab Tag eins automatisch an jenen Bezirk übergehen, in dem sie aufgegriffen wurden. Lisa Wolfsegger von asylkoordination österreich bewertet den Vorschlag als "sehr gut". Bisher bleibt es bei einem Entwurf.
Der Entwurf befinde sich seither in „politischer Koordinierung“: „Vor allem die notwendige Finanzierung für eine adäquate Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (Stichwort: Tagsatzerhöhung) muss durch das zuständige Innenministerium und die Bundesländer sichergestellt werden“, sagt eine Sprecherin.
Das Innenministerium sieht wenig Handlungsbedarf
Das Statement aus dem Justizministerium kann als eine mehr oder weniger diplomatische Formulierung für „Die ÖVP blockiert“ gelesen werden. Zur Umsetzung ist das grüne Justizministerium auf die Mithilfe der Bundesländer angewiesen – und die sind überwiegend in schwarzer Hand. Auch das Innenministerium wird von der ÖVP geführt, dort sieht man wenig Handlungsbedarf: „Die Betreuungseinrichtungen des Bundes stellen keine Orte der Freiheitsentziehung dar, sodass allen untergebrachten Personen ein Verlassen der Einrichtungen jederzeit auf eigenen Wunsch möglich ist“, sagt ein Ministeriumssprecher. Da Österreich auf der sogenannten „Balkanroute“ liege, sei die Alpenrepublik für die meisten ohnehin nur eine Durchgangsstation.
„Uns bleibt nichts anderes übrig, als gebetsmühlenartig aufzuzeigen, dass in Österreich verdammt viele Kinder verschwinden“, sagt Wolfsegger. Im Juni veranstaltete ein Expertenbündnis aus NGOs und Kinderschutzorganisationen eine Aktionswoche, um medienwirksam auf das Thema aufmerksam zu machen. Bis jetzt ohne Reaktion. In rund einem Jahr stehen in Österreich die nächsten regulären Nationalratswahlen an und das Koalitionsklima ist chronisch schlecht – dass sich ÖVP und Grüne in einer solch heiklen Frage noch einigen, ist unwahrscheinlich.
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