Wunschdenken zu Lateinamerika

picture alliance/EPA/Andre Borges
Im Juni hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) - scheinbar bestens gelaunt - Brasiliens Präsident Lula da Silva einen Besuch abgestattet. Doch vor dem EU-Lateinamerika-Gipfel am 17. und 18. Juli machen die lateinamerikanischen Staaten deutlich, dass die Beziehungen nicht ganz so rosig sind, wie es sich die EU wohl wünschen würde...
Mercosur-Abkommen
Die Europäische Union will ihre Beziehungen zu Lateinamerika wiederbeleben und betont gemeinsame Interessen und Werte. Doch kurz vor einem Gipfeltreffen in Brüssel kommen von der anderen Seite des Atlantiks ernüchternde Signale.

„Die Europäische Union (EU) und Lateinamerika und die Karibik sind natürliche Partner.“ So lautet der euphorische erste Satz einer Mitteilung der EU-Kommission und des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell an das Europäische Parlament von Anfang Juni. Und in diesem Ton geht es weiter in dem Papier, in dem die Kommission und Borrell eine „neue Agenda“ für die Beziehungen zu Lateinamerika skizziert haben, wenige Wochen vor dem Gipfeltreffen der EU und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) am 17. und 18. Juli in Brüssel. 

Das Papier vermittelt den Eindruck, als passe zwischen beide Seiten kein Blatt, sei es in politischen Fragen, sei es beim gemeinsamen Handel und der wirtschaftlichen Entwicklung, sei es beim Engagement für Umwelt-, Klima- und Menschenrechtsschutz. Überall verfolge man letztlich dieselben Ziele und könne an einem Strang ziehen. Zugleich preist die EU ihre Global-Gateway-Initiative als das ideale Werkzeug dafür, in den lateinamerikanischen Staaten Infrastruktur aufzubauen und einen „fairen grünen und digitalen Wandel“ zu fördern.

CELAC-Staaten haben wesentliche Punkte gestrichen

Allerdings sieht man auf der anderen Seite des Atlantiks die Beziehungen zu Europa offenbar nicht ganz so rosig. In ihrer Antwort auf den Entwurf der EU für eine Abschlusserklärung für den bevorstehenden Gipfel in Brüssel haben die CELAC-Staaten laut einem Bericht des Onlinedienstes „EurActiv“  wesentliche Punkte gestrichen und eigene Schwerpunkte hinzugefügt. So findet sich in dem CELAC-Entwurf kein Hinweis mehr darauf, dass die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland unterstützt werden müsse. Stattdessen werden lediglich „ernsthafte und konstruktive diplomatische Lösungen für den gegenwärtigen Konflikt in Europa“ angemahnt.

Laut dem „EurActiv“-Bericht haben die CELAC-Staaten zudem jeden Hinweis auf die Notwendigkeit der Korruptionsbekämpfung gestrichen. Die Aussicht auf Global-Gateway-Investitionen aus Europa wiederum wird lediglich „zur Kenntnis genommen“ und nicht etwa „begrüßt“, wie das in solchen diplomatischen Erklärungen üblich ist. Und für die EU-Diplomaten wahrscheinlich ziemlich unverhofft fordern die lateinamerikanischen Partner, Europa müsse die lateinamerikanischen Staaten für die Folgen des transatlantischen Sklavenhandels entschädigen, um die Würde der Opfer wiederherzustellen.

Gute Gründe für "eine strategische Partnerschaft"

„Lateinamerika hat sich verändert“, sagt Detlef Nolte vom German Institute for Global and Area Studies in Hamburg. Es gebe keinen Automatismus mehr in den Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika. „Wenn die EU von einem ,natürlichen Partner‘ spricht, ist das auch eine Portion Wunschdenken.“ Nolte verweist in diesem Zusammenhang auf Unterschiede im Demokratieverständnis: Während die EU die autoritäre Regierung in Venezuela unter Präsident Nicolás Maduro wiederholt kritisiert hat, fand Brasiliens Präsident Lula da Silva mehrmals relativierende Worte. Ende Juni erklärte Lula mit Blick auf die umstrittenen Wahlen in Venezuela vor fünf Jahren, es gebe unterschiedliche Ansichten zur Demokratie.

Nolte sagt, beide Seiten hätten gute Gründe für eine „strategische Partnerschaft“: Für Europa sei der Zugang zu Rohstoffen auch im Hinblick auf die angestrebte grüne Transformation wichtig. Und Lateinamerika sei daran interessiert, die handels- und wirtschaftspolitische Abhängigkeit von China nicht zu groß werden zu lassen. Die Volksrepublik ist für lateinamerikanische Staaten wie Brasilien oder Argentinien als Handelspartner längst wichtiger als die EU. In Mittelamerika haben die USA die Nase vorn.

Über Mercosur-Abkommen wird seit 20 Jahren verhandelt

Entsprechend groß ist das Interesse in Brüssel, das Handelsabkommen mit den vier Staaten des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) endlich abzuschließen, über das seit rund zwanzig Jahren verhandelt wird. Aber auch hier haben die Lateinamerikaner europäischen Hoffnungen einen Dämpfer versetzt: Ende Juni sagten sie kurzfristig eine Verhandlungsrunde ab, weil sie noch keine gemeinsame Antwort auf Forderungen der EU gefunden hatten, im beiderseitigen Handel müssten der Umwelt- und der Klimaschutz stärker beachtet werden. Offenbar sind sich die Mercosur-Mitglieder hier nicht einig: Brasilien und Argentinien lehnen Vorschriften aus Brüssel strikt ab, während Uruguay weniger Probleme damit hat und das Abkommen mit der EU daran nicht scheitern lassen will. 

Lula da Silva kritisiert außerdem, das Abkommen drohe die Mercosur-Staaten zu Rohstofflieferanten zu degradieren und benachteilige bei öffentlichen Aufträgen einheimische Unternehmen gegenüber der Konkurrenz aus Europa. Die grüne Europaabgeordnete und Vizepräsidentin der Brasilien-Delegation des Europäischen Parlamentes Anna Cavazzini, kann diese Sorge nachvollziehen: „Der Handel mit der EU und europäischen Unternehmen muss einen echten Mehrwert für die rohstoffreichen Länder Lateinamerikas schaffen“, sagte sie auf Anfrage. Das gelte auch für das Mercosur-Abkommen. „Dafür braucht es Unterstützung bei der Entwicklung lokaler Veredelungs-, Umwandlungs- und Produktionsaktivitäten.“

Auch Europa muss noch einige Hürden bewältigen

Aber auch in Europa muss das Abkommen noch einige Hürden nehmen: Frankreich und Österreich wollen ihm in der vorliegenden Fassung nicht zustimmen. Beide Länder fürchten die landwirtschaftliche Konkurrenz aus Lateinamerika. Umweltschutz- und Entwicklungsorganisationen wiederum halten die von der EU geforderten Vorkehrungen zum Regenwaldschutz für zu lasch. „Das Mercosur-Abkommen würde den Handel mit Produkten fördern, die Tropenwald vernichten“, sagt Martina Schaub von der Tropenwaldstiftung OroVerde. Die EU würde damit ihre eigene Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten aushebeln, die unlängst in Kraft getreten ist. 

Für Schaub führt kein Weg daran vorbei, das Abkommen neu zu verhandeln – und dabei sollten zivilgesellschaftliche Organisationen viel stärker einbezogen werden, in der EU und im Mercosur. Für das Gipfeltreffen Mitte Juli in Brüssel wünscht sich Schaub, dass die EU und die CELAC einen Fahrplan für eine „wirklich transformative Politik“ hin zu gerechteren und zukunftsfähigen Gesellschaften auf beiden Kontinenten verabschieden. 

Danach sieht es zurzeit allerdings nicht aus. Gegenüber „EurActiv“ erklärte ein EU-Diplomat, angesichts der Änderungswünsche aus Lateinamerika sei nicht auszuschließen, dass das Gipfeltreffen ohne Abschlusserklärung endet. 

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