Sie haben Mitte Juni in Berlin an einem Globalen Forum über Wege zur Stärkung sozialer Sicherheit in Entwicklungsländern teilgenommen. Und Sie untersuchen in einem 2022 erschienenen Buch, warum manche arme Länder sich recht erfolgreich entwickeln, andere nicht. Ist Wirtschaftswachstum eine Voraussetzung dafür, dass ein Land die Sozialsicherung ausweiten kann?
Kein Land der Welt hat es ohne Wirtschaftswachstum geschafft, extreme Armut nachhaltig zu vermindern. Und Wachstum ist auch für nachhaltige soziale Absicherung notwendig, weil die eher früher als später aus den Mitteln des Landes selbst finanziert werden muss. Das bedeutet, dass die Leute dort soziale Sicherungssysteme mittragen müssen. Sonst handelt es sich um vorübergehende Wohltaten von außen.
Haben erfolgreiche Länder den Sozialschutz gleichzeitig mit Wirtschaftswachstum ausgeweitet oder eher erst mit Verzögerung?
Jedes Land braucht vor allem ein Entwicklungsmodell, das unter den eigenen sozialen und politischen Voraussetzungen funktioniert. Und manche dieser erfolgreichen Modelle waren stärker inklusiv, andere weniger. Nehmen wir Bangladesch. Als ich mein Studium in Entwicklungsfragen in den 1980ern begann, war das Land extrem arm und trat wirtschaftlich auf der Stelle. Seit Mitte der 1980er Jahre machten sich die Eliten dort jedoch das Ziel zu eigen, Wachstum in Gang zu bringen. Armutsminderung ging dabei zunächst nicht vom Staat aus, sie war weitgehend das Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse. Aber der Staat ließ lokalen NGOs den nötigen Raum, und deren Einsatz war entscheidend für soziale Inklusion. Nicht umsonst stammt heute die größte NGO weltweit, BRAC (Bangladesh Rural Advancement Committee), aus Bangladesch. Ganz anders war der Fall China, wo sich die kommunistische Partei ebenfalls zu Beginn der 1980er Jahre das Ziel „Wirtschaftsentwicklung“ zu eigen machte. Als ich vor etwa fünf Jahren als Teil einer britischen Regierungsdelegation hohen Parteikadern in Peking zur starken Verringerung der Armut gratulierte, betonten die: „Wir hatten uns gar nicht vorgenommen, Armut zu verringern, das war nur ein Nebeneffekt – unser Ziel waren Wachstum und wirtschaftliche Sicherheit.“
Die Kernthese Ihres Buches ist, dass Entwicklung vor allem davon abhängt, ob die politischen und wirtschaftlichen Eliten eines Landes sich verständigen, langfristiges Wachstum anzustreben statt kurzfristige Bereicherung – richtig?
Genau. Erfolgreiche Länder sind ganz unterschiedlich vorgegangen; ein Rezept für Entwicklung reicht eindeutig nicht. In China zum Beispiel hat der Staat die Entwicklung angeführt, in Bangladesch nicht. China hatte historisch einen starken Staat; eine Bürokratie, deren Beamte nach Fähigkeit und Verdienst rekrutiert wurden, und die zentrale Steuererhebung haben dort 2000 Jahre Tradition. In Bangladesch dagegen war zu Beginn der Staat sehr schwach, ziemlich korrupt und regierte schlecht; davon mussten die Eliten dort ausgehen. Mit Eliten meine ich Führungsgruppen in Politik und Wirtschaft und manchmal auch in der Zivilgesellschaft, in Wissenschaft und Medien. Entscheidend ist, ob unter diesen Gruppen das Bestreben verankert ist, ein Wirtschaftsmodell zu verfolgen, das Entwicklung bringt. Allerdings kann nicht jedes Modell auch funktionieren. Und das Auffällige an vielen erfolgreichen Ländern ist, dass sie ein passendes Modell gesucht und es im Laufe des Prozesses, wenn etwas nicht klappte, immer wieder korrigiert und angepasst haben.
Die meisten Beispiele für gelungene nachholende Entwicklung finden sich in Asien, nur wenige in Afrika. Wie erklären Sie das?
Da spielen grundlegende Aspekte der Wirtschaftsgeschichte eine Rolle. Länder, die wie China, Thailand und Indonesien auf der Geschichte eines eigenen vorkolonialen Staates aufbauen können, haben einen Entwicklungsvorsprung. Die DR Kongo, der eine Geschichte der Staatsbildung fehlt – sogar in der Kolonialzeit fand die nur sehr begrenzt statt –, liegt demgegenüber Jahrzehnte zurück. Aber auch welche Entscheidungen heute getroffen werden, ist wichtig. Bangladesch ist da für Afrika ein hilfreiches Beispiel. Und in Afrika haben sich große Unterschiede zwischen Ländern herausgebildet. In Nigeria, der DR Kongo, Malawi oder Madagaskar erwarte ich wenig Wandel. Aber Ghana, das auch eine Kolonie war, hat seit den 1990er Jahren bemerkenswerte wirtschaftliche und soziale Fortschritte gemacht und mit Einschränkungen auch Ostafrika. Mit Sicherheit werden nicht alle Länder Afrikas zurückbleiben.
Länder wie China und Vietnam zeigen, dass Demokratie keine Voraussetzung für Entwicklung ist, aber ist eine gewisse Rechenschaftspflicht der Eliten förderlich?
Ja. Weil in Autokratien selbst eine Regierung, die lange Zeit gegen grundlegende Interessen der breiten Bevölkerung handelt, nicht vom Volk entfernt werden kann, brauchen sie für Entwicklungserfolge ein internes System der Rechenschaftspflicht. Genau das war Teil der Erfolgsgeschichte in China: Anders als in manchen anderen kommunistischen oder autokratischen Ländern galt da seit den Reformen nach 1978: Wer nicht für Wirtschaftswachstum sorgte und in den jüngsten zwei Jahrzehnten auch für Armutsminderung, der wurde nicht befördert und abgesetzt. Dazu ist allerdings ein starker Staat mit funktionierendem Apparat nötig. In Autokratien in Afrika, die den nicht haben, ist das viel schwieriger. Auch Demokratien haben jedoch sehr unterschiedliche Entwicklungsergebnisse. In Malawi sind sie trotz Demokratie sehr schlecht, in Ghana dagegen war Demokratie ein wesentlicher Grund dafür, dass in den 1990er Jahren sowohl Wachstum als auch politische Stabilität erreicht wurden.
Warum kommt denn ein entwicklungsorientierter Elitenhandel in manchen Ländern zustande, in anderen nicht? Beeinflussen auch Faktoren von außen, etwa Rohstoffeinnahmen, das Verhalten von lokalen Eliten?
Ja, die spielen eine Rolle. Rohstoffeinnahmen würde ich aber nicht als nur äußere Faktoren ansehen. Eine Reihe Länder wie Tansania und Uganda, die erst neuerdings Erdöl oder Erdgas fördern und exportieren, gehen damit ja besser um als andere Exporteure. Aber es stimmt, Öleinnahmen machen es Eliten leichter, den Status quo zu erhalten, statt sich mit Entwicklung abzumühen. Und das macht es böswilligen Investoren leichter, mit ihnen Geschäfte zu machen. So sind in Ländern wie der DR Kongo oder Sierra Leone oft Schurkenfirmen im Bergbausektor tätig. Und ja, es gibt weitere Einflüsse von außen. Frankophone Länder wie Niger und Senegal haben es zum Beispiel mit der auswärtigen Macht Frankreich zu tun, die in der Regel versuchte, um jeden Preis Stabilität zu sichern . Das machte es schwieriger, in den Ländern einen neuen entwicklungsorientierten Handel zu schließen.
Sind Reformen von globalen Regeln nötig, damit Eliten im Süden entwicklungsorientierter handeln – zum Beispiel bei Handelsregeln und Regeln gegen Steuerflucht und illegalen Geldtransfer?
Ja. Wir sollten Importe aus dem Süden erleichtern; Länder wie Bangladesch hätten sich ohne bevorzugten Zugang zu unseren Märkten niemals so entwickeln können. Und gegen illegale Finanzflüsse vorzugehen, wäre sehr wichtig. Undurchsichtige und entwicklungsfeindliche politische Systeme wie in Myanmar oder Nigeria könnten ohne Steuerparadiese und illegale Finanztransfers nicht funktionieren. Die Diktatur in Myanmar hätte viel größere Probleme, sich zu halten, wenn wir das internationale Finanzsystem transparent machen würden und die wahren Vermögenseigentümer bekannt gemacht werden müssten. Damit könnte man wesentlich bessere Eliten-Deals befördern, als es sie jetzt in vielen Ländern gibt.
Ist ein ähnlicher Elitenhandel wie für Entwicklung auch für die Ausweitung der Sozialsicherung nötig?
Ja. Man darf Sozialsicherung nicht als technisches Problem behandeln. Auch bei uns ist sie aus Kämpfen entstanden, die zu einem Handel zwischen der organisierten Arbeiterschaft und den im Staat dominierenden Eliten geführt haben. Warum soll es in anderen Ländern anders sein? Sozialsysteme wird die heimische politische Elite nicht automatisch akzeptieren. Warum waren in Mexiko und Brasilien Sozialprogramme mit Bedingungen für die Empfängerinnen verbunden? Nicht weil Fachleute fanden, an Bedingungen geknüpfte Zahlungen würden besser funktionieren. Sondern es war die einzige Möglichkeit zu erreichen, dass das von der rechten Mitte und den Mittelschichten beherrschte Parlament die Programme auf Dauer mittrug. Am Ende müssen ja die Reichen und die Mittelschichten die Sozialsicherung auf Dauer finanzieren. Sie ist deshalb Teil des Elitenhandels, der die Wirtschaftsentwicklung am Laufen hält.
Was ist sinnvoll, um in armen Ländern die Sozialsicherung zu stärken?
Erstens sollte man nicht von Plänen ausgehen, die in Berlin oder London erdacht werden, sondern von der Frage: Welche politische Unterstützung ist in dem Land plausibel erreichbar? Das kann man dann von außen fördern. Zweitens muss es um ein funktionsfähiges System gehen. Mit Projekten und Pilotprogrammen mögen wir Gutes tun, und daran ist nichts verkehrt, aber wir schaffen keine Sozialsysteme. Dazu muss man mit dem Staat arbeiten und davon ausgehen, was mit dessen Fähigkeiten jeweils möglich ist. Und drittens muss man von dem Geld ausgehen, das im Land da ist. Als ich für das britische Entwicklungsministerium DFID arbeitete, unterstützten wir ein brillantes Programm für Müttergesundheit in Nordnigeria mit Geldtransfers und Hilfe für Kinder. Wir haben dann berechnet, was es kosten würde, es auf die nördlichen Bundesstaaten Nigerias auszuweiten, mit dem Ergebnis: Es hätte 70 Prozent von dessen Budget beansprucht. Das ist offenbar realitätsfern.
Was halten Sie von einem globalen Fonds, der Sozialsicherung in armen Ländern finanziert?
Der wäre sinnvoll. Finanzierung ist wichtig und es ist erwiesen, dass Bargeldtransfers eine wirksamere Form der Hilfe sind als viele Projekte. Aber ich würde das Geld aus einem globalen Sozialfonds nicht an Bedürftige verteilen, sondern nutzen, um nationale Sozialsysteme aufbauen zu helfen – nicht zuletzt digitale Auszahlungswege. Dann müssen Standardtransfers an Arme soweit wie möglich aus den Einnahmen des eigenen Staates finanziert werden, damit sie nachhaltig sind. Den globalen Fonds würde ich nutzen, um diese Sicherungssysteme in Krisen abzusichern, zum Beispiel im Fall vom Kriegen oder politischen Unruhen. Wenn zum Beispiel der Sudan ein System besäße, über das Hilfe an Bedürftige gelangt, dann könnte man es jetzt, während des Bürgerkrieges, benutzen, um Geld aus dem Norden zu verteilen. Der globale Fonds sollte als letzte Absicherung für den Notfall bereitstehen.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
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