Grundlegung der nachhaltigen Entwicklung

Nicholas Georgescu-Roegen (1906-1994) und das Entropiegesetz in der Wirtschaft

Von Sebastian Berger

1971 veröffentlichte Nicholas Georgescu-Roegen sein Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process“, das zum Grundstein der modernen ökologischen Wirtschaftstheorie wurde. Seine Erkenntnisse sind bis heute wichtig für jede fundierte Erörterung von „nachhaltiger Entwicklung“.

Nicholas Georgescu-Roegen wurde am 4. Februar 1906 in der rumänischen Hafenstadt Constanza geboren. Er studierte an der Universität Bukarest, die ihn 1926 mit dem Lehrerdiplom verabschiedete. Mit einem Stipendium ging er nach Paris, wo er Mathematik und Statistik studierte und 1930 promovierte. Einige ökonomische Kurse, die er zugleich nahm, brachten ihn zu der Überzeugung, dass „ökonomische Phänomene nicht mit einem mathematischen System beschrieben werden können“.

Weitere Stipendien führten Georgescu-Roegen erst nach London und 1934 schließlich nach Harvard, wo Joseph Schumpeter endgültig sein Interesse für die Ökonomie weckte. Er veröffentlichte einige wichtige Aufsätze zur Nutzen- und Produktionstheorie, bevor er 1937 nach Rumänien zurückkehrte mit der Absicht, Entwicklungshilfe in der Heimat zu leisten. Als Mitglied des Zentralkomitees der Bauernpartei erfuhr er den Unterschied zwischen ökonomischer Theorie und praktischen wirtschaftlichen Problemstellungen. Dies motivierte ihn, eine realitätsnähere Wirtschaftstheorie zu entwickeln, und war der Ursprung seines Interesses für die Agrarwirtschaft. Vor allem Schwierigkeiten beim Erhalt der Bodenfruchtbarkeit führten Georgescu-Roegen zur Einsicht in den entropischen Charakter der Wirtschaft.

Die Flucht vor dem pro-sowjetischen Regime führte ihn 1948 über die Türkei und Frankreich wieder in die USA. Der plötzliche Tod seines Mentors Schumpeter vereitelte Georgescu-Roegens Berufung zum Professor in Harvard, so dass er 1949 eine Professur an der Vanderbilt University in Nashville antrat. Hier veröffentlichte er 1960 „Economic Theory and Agrarian Economics“ und 1971 sein Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process“, das ihn zum Vordenker der ökologischen Wirtschaftstheorie machte. Georgescu-Roegen starb am 30. Oktober 1994 in Nashville.

Seine Ausbildung zum Mathematiker versetzte Georgescu-Roegen in die Lage zu erkennen, dass die Verkürzung wirtschaftlicher Abläufe auf mathematische Formeln falsch ist, weil dabei alle qualitativen Unterschiede verloren gehen und weil diese Abläufe – anders als die Formeln nahelegen – nicht umkehrbar sind. Stattdessen forderte er eine Analysemethode, die den entropischen Charakter des Wirtschaftsprozesses erfasst, den die Ökonomen bis dahin völlig übersehen hatten.

Der Begriff der Entropie wurde 1865 von Rudolf Clausius als zweiter Hauptsatz der Thermodynamik in die Physik eingeführt. Er besagt vereinfacht, dass der Nutzen einer bestimmten Energiemenge ständig abnimmt. So kann etwa die in der Kohle enthaltene Energie in der Dampfmaschine nur zum Teil genutzt werden, der größere Rest geht als Abwärme verloren. Den Nutzungsgrad kann man steigern, aber nie bis 100 Prozent. Die Entropie wächst also, wenn Energie „verbraucht“ wird.

AUCH STOFFE GEHEN VERLOREN

Georgescu-Roegen entdeckte, dass das Entropiegesetz auch für die Wirtschaftstheorie von Bedeutung ist und dass Entropie sich nicht nur als Maß für Energieverluste, sondern auch für Stoffverluste anwenden lässt. Die Wirtschaft stellt ein offenes thermodynamisches System dar, das niedrige Entropie importiert und hohe exportiert. Niedrige Entropie ist gleichbedeutend mit nützlichen Energie-Materie- Strukturen, zum Beispiel Nahrungsmitteln oder Kohle zum Heizen. Dagegen ist hohe Entropie gleichbedeutend mit Abwärme oder wertlosem Abfall. Der Wirtschaftsprozess ist rein physikalisch betrachtet ein Umwandlungsprozess, der Materie und Energie weder erzeugt noch vernichtet, sondern sie von einem Stadium niedriger in ein Stadium hoher Entropie verwandelt. Dieses Gedankengebäude nennt Georgescu-Roegen „Bioökonomik“.

Damit hat er den Grund gelegt für die Theorie der nachhaltigen Entwicklung. Der benötigte Materiebestand niedriger Entropie (etwa Bodennährstoffe) ist begrenzt, da die Erde zwar einen Zufluss an Energie von der Sonne erhält, aber keinen Materiezufluss. Im Wirtschaftsprozess wird dieser Bestand in wertlosen Abfall verwandelt, so dass Stück für Stück ein immer größerer Teil irreversibel verloren geht. Dies gilt trotz einer gewissen Recyclingfähigkeit, da ein Teil des Abfalls nur durch langwierige und energie- und materialintensive Verfahren recycliert werden kann oder die bio-geo-chemischen natürlichen Recyclingprozesse für menschliche Zwecke zu lange dauern. Georgescu-Roegen fasst diesen Prozess in das Bild der Sanduhr, die, einmal auf den Kopf gestellt, irreversibel abläuft; nur mit dem Unterschied, dass die Menschheit nicht die Möglichkeit hat, die Sanduhr nach Ablauf wieder umzudrehen.

PLÄDOYER GEGEN DIE VERSCHWENDUNG

Nachhaltige Entwicklung bedeutet demnach eine Wirtschaftsweise, die den irreversiblen Ablauf des Entropiegesetzes so weit wie möglich verlangsamt, so dass möglichst viele Generationen eine Lebenschance bekommen. Dies wird durch Verschwendung lebenswichtiger und nur begrenzt vorhandener Materie von niedriger Entropie gefährdet. Vor allem der Verlust von Bodennährstoffen durch Überbeanspruchung und die rapide weltweite Bodenerosion gefährden nachhaltige Entwicklung. Hinzu kommt die überschnelle Produktion von hoher Entropie, zum Beispiel der Ausstoß von Kohlendioxid oder eine Luft- oder Wasserverschmutzung, die die Aufnahmefähigkeit der Biosphäre überschreiten. Beides gefährdet die Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft oder die Befriedigung existenzieller menschlicher Bedürfnisse, so dass nachhaltige Entwicklung neben Sparsamkeit bei der Ressourcennutzung auch Abfallminimierung bedeuten muss.

Das Entropiegesetz lenkte Georgescu- Roegens Aufmerksamkeit auf die große Bedeutung der Landwirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung. Sein Ausgangspunkt ist, dass niedrige Entropie in Form von Sonnenenergie reichlich vorhanden ist und dass die Biosphäre die nachhaltige Entwicklung unterstützt, indem sie die Sonnenenergie einfängt und in biotische Strukturen niedriger Entropie, in Biomasse umwandelt. Die Ernährung über die Nahrungskette der Biosphäre hat für die Menschheit über Jahrtausende funktioniert. Eine mit erneuerbaren biotischen Ressourcen betriebene Landwirtschaft ermöglicht wirtschaftliche Entwicklung im Prinzip sehr langfristig, noch lange nachdem der Einmal-Effekt der auf nicht erneuerbaren mineralischen Ressourcen beruhenden industriellen Produktionsweise „verpufft“ sein wird. Dies gilt jedoch nur, wenn Bodennährstoffe nicht vorzeitig irreversibel durch Überbeanspruchung oder Verschmutzung degradiert werden.

Georgescu-Roegen kritisiert deshalb landwirtschaftliche Produktionsmethoden, die, nur auf Ertragssteigerung setzend, die natürlichen Leistungsbeschränkungen des Bodens missachten und dadurch zwangsläufig verfrühten Ertragsverlust fördern. Damit geht ein einmaliges Potenzial für die nachhaltige Entwicklung verloren. Er weist ferner darauf hin, dass diese „industriellen“ Methoden von nicht erneuerbaren Ressourcen wie Mineraldünger und Treibstoff abhängig sind und daher nicht als nachhaltig bezeichnet werden können. Nachhaltigkeit setzt eine aus sich selbst heraus lebensfähige Produktionsweise und Technologie voraus. Jene, die an eine Lösung aller Beschränkungen mittels Technologie glauben, warnt Georgescu-Roegen vor zu viel Optimismus: Technologische Innovationen hätten bisher einen immer höheren Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen zur Folge, so dass keine Rede von einem Trend zur Nachhaltigkeit sein könne.

In einem „Bioökonomischen Minimalprogramm“ fordert Georgescu-Roegen 1976 das Ende der Energieverschwendung sowie eine Umorientierung gesellschaftlicher Werte in Richtung Bevölkerungsrückgang und Umverteilung der Ressourcen zugunsten von Entwicklungsländern. Verbraucher sollten Produkte mit langer Lebensdauer wählen und sich nicht an Moden orientieren. Er fordert eine neue Ethik, die auf der Kenntnis der Rolle des Menschen in den ihn erhaltenden bio-geo-chemischen Prozesse basiert. Das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung sollte nicht Wirtschaftswachstum und schon gar nicht eine Erhöhung des Energie-Materie-Durchflusses sein. Der wirkliche Nutzen der Wirtschaft für den Menschen, so sagt Georgescu-Roegen, besteht nicht in den materiellen Produkten, sondern in den „services“, den Dienstleistungen – oder besser: in dem Genuss, den uns diese Dienstleistungen verschaffen: „the enjoyment of life“. Da die Zukunft nur begrenzt vorhersehbar ist, forderte Georgescu-Roegen anstelle der Maximierung der gegenwärtigen Wohlfahrt die Minimierung zukünftigen Bedauerns. Das Hauptziel der nachhaltigen Entwicklung müsse die Erhaltung der Spezies Mensch sein.

Georgescu-Roegens Arbeiten zur Bioökonomik sind lange Zeit von der Mainstream-Ökonomik in Frage gestellt worden, während gleichzeitig seine Arbeiten zur mathematischen Ökonomik hoch geschätzt wurden. Als die Angriffe zunahmen, sah er sich veranlasst, aus der American Economic Association auszutreten. Es war eine Minderheit von Ökonomen (mit ihm zusammen vor allem Herman Daly und Robert Costanza), die die ökologische Debatte in den 1970er Jahren in den USA in Gang brachten.

Schon damals gab es auf der Basis seiner Entropie- Thesen Diskussionen über die Gefahr, dass die Erde aufgrund zu schneller Abwärme-Produktion den Hitzetod erleiden könnte. Georgescu-Roegen hatte vorausgesehen, dass sich die Diskussion zunächst auf Umweltverschmutzung konzentrieren würde, da diese die Menschen zuerst beeinträchtigte. Darüber hinaus blieb er skeptisch, dass sein Anliegen der Materiekonservierung rasch ins allgemeine Bewusstsein dringen und zu einer nachhaltigen Entwicklung führen würde. Wie die Entwicklung bis heute zeigt, sollte er damit Recht behalten.

In Europa werden heute Entwicklungsstudien in der Tradition von Georgesu-Roegen schwerpunktmäßig an der Universidad Autónoma in Barcelona betrieben, wo eine Forschungsgruppe um Juan Martinez- Alier sich mit Themen aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung befasst. Das „Journal of Ecological Economics“ ist das publizistische Hauptorgan der in der Tradition Georgescu-Roegens forschenden Ökonomen, die sich mehrheitlich in der European Society for Ecological Economics (ESEE) sowie die International Society for Ecological Economics (ISEE) organisieren.

Sebastian Berger ist Assistant Professor am Roanoke College, Virginia.

welt-sichten 7-2008

 

erschienen in Ausgabe 7 / 2008: Schlachtfeld Afrika
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