Ohne Nutztiere keine Nachhaltigkeit

Wolfgang Ammer
Landwirtschaft
Die moderne Wissenschaft versteht Tierhaltung als Input-Output-Modell und übersieht dabei die tragende Rolle des Nomadentums in Landschaftspflege und Ernährungssicherung. Im Endeffekt verbrauchen industrielle Systeme mehr Protein, als sie erzeugen.

Der Verzehr von tierischen Nahrungsmitteln, vor allem Fleisch, ist heutzutage schon fast verpönt. Will man ein ethischer Mensch sein, muss man vegetarisch oder besser noch vegan leben und zumindest die Kuhmilch im Kaffee durch eine pflanzliche Variante ersetzen – aus Gründen des Tierschutzes, des Klimas, der Umwelt und auch der eigenen Gesundheit. 

Allerdings ist der Verzicht auf tierische Produkte ein Luxus, den wir uns nur im reichen Westen leisten können. Denn ohne Nutztiere ist ein Überleben in weiten Teilen der Erde unmöglich. Laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) ist nur etwa ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche weltweit zum Ackerbau geeignet, während zwei Drittel dafür zu trocken, zu steil, zu kalt oder zu heiß sind. In diesen riesigen Regionen ist man auf Nutztiere angewiesen, um die natürliche Vegetation in Milch und Fleisch umzuwandeln. 

In Ökozonen wie der arktischen Tundra, der afrikanischen Sahelzone, den Hochlagen des Himalaya, der Anden und den Alpen haben sich Menschen daher seit Jahrtausenden darauf spezialisiert, Symbiosen mit mobilen Herden aus Rentieren, Yaks, Lamas, Kamelen, Rindern, Schafen, Ziegen, Pferden, ja mancherorts sogar Schweinen und Enten einzugehen und sich von ihren Produkten zu ernähren – meist ist dies Milch, aber gelegentlich auch Fleisch. Diese nomadischen Systeme erzeugen zudem Dünger und Brennstoff, Fasern und Arbeitstiere für die sesshaften Bauern. Und oft produzieren sie erhebliche Überschüsse an Milch und Fleisch, mit denen sie die städtische Bevölkerung versorgen und damit einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit leisten. 

In Partnerschaft mit Natur und Tier

Typisch für die mobile Tierhaltung ist eine enge Beziehung zwischen Mensch und Herde, in der das Tier und seine Bedürfnisse nicht dem Menschen und seiner Bequemlichkeit untergeordnet, sondern als gleichwertig angesehen werden. Diese Wirtschaftsweise ist zudem unabhängig von fossilen Brennstoffen und trägt zum Erhalt der natürlichen Biodiversität bei, da der Boden nicht umgepflügt und mit Monokulturen eingesät wird. Sie ist in die Landschaft integriert und Ausdruck einer Philosophie, in der der Mensch die Natur nicht beherrscht, sondern in einer Partnerschaft mit ihr lebt, in guten wie in schlechten Zeiten. 

Autorin

Ilse Köhler-Rollefson

ist Tierärztin, Gründerin der Liga für Hirtenvölker e.V. und hat zum Thema gerade das Buch „Hoofprints on the Land. How Traditional Herding and Grazing Can Restore the Soil and Bring Animal Agriculture Back in Balance with the Earth“ veröffentlicht. Sie lebt seit 30 Jahren meist in Indien.
Wir können vieles von diesen oft Jahrtausende alten Kulturen lernen: unsere Nutztiere nicht als untergeordnete maschinenartige Wesen, sondern als ebenbürtige Partner mit eigener Intelligenz anzusehen, sie dabei zu unterstützen, sich ihre Nahrung selbst zu suchen und sogar auszusuchen, sie in natürlichen Familienverbänden zu halten, ohne Mütter und Nachwuchs zu trennen, und zu jedem Tier eine persönliche Beziehung zu haben. 

Wenn Nutztiere in solchen naturnahen Systemen gehalten werden, dann verpuffen die Kritikpunkte gegenüber der Tierhaltung, mit denen wir in westlichen Medien und auch von der Wissenschaft regelmäßig konfrontiert werden. Mobile Tierhaltung ist die natürlichste Art der Nahrungsmittelerzeugung, die man sich denken kann, und im Prinzip ahmen Hirtennomaden das Verhalten wandernder Wildherden nach. Kurze und intensive Beweidung und lange Ruheperioden für die Vegetation sind das Geheimnis für die Nachhaltigkeit solcher Systeme. Dadurch wird die richtige Menge Stickstoff in den Boden eingebracht, und Bodenorganismen werden aktiviert, während oberirdisch der Dung als Nährboden für Insekten dient, die wiederum Nahrung für Vögel, Reptilien und Kleinsäuger sind. Zudem verbreiten die wandernden Tiere Samen, was die Keimung hartschaliger Varianten wie etwa an Dürre angepasster Akazien erleichtert.

Der Wert der mobilen Nutztierhaltung wird oft nicht anerkannt 

Diese ökologischen Prinzipien werden auch im Westen, vor allem in Großbritannien und den USA,  zunehmend angewendet und verfeinert. Beim angepassten Weidewechsel (Adaptive Multi-Paddock Grazing) etwa werden Weiden mit Elektrozäunen in Parzellen unterteilt und die Tiere täglich oder sogar öfter umgetrieben. Es zeigt sich, dass das die Produktivität sowohl der Weiden als auch der Nutztiere steigert.

Doch leider wird der Wert der mobilen Nutztierhaltung in den Ländern, in denen sie von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist, von den Regierungen selten anerkannt. Anstatt ihren Beitrag zur Ernährungssicherheit und zur Produktion von organischem Dünger zu schätzen und sie in die Landschaftsplanung einzubeziehen, wird sie ignoriert oder sogar verboten, wie aktuell in China und zur Zeit der Schahs im Iran. Diese ablehnende Haltung hat verschiedene Gründe: zum einen tief verwurzelte Ängste der sesshaften Bevölkerung vor räuberischen Nomaden, zum anderen das Erbe der Kolonialzeit, in der Nomaden sesshaft gemacht wurden, um sie sowohl kontrollieren als auch besteuern zu können. 

Doch auch die moderne Nutztierwissenschaft verfestigt diese ablehnende Haltung. Denn sie verfolgt einen reduktionistischen Ansatz, der Tiere bis heute als Input-Output-Modelle versteht, die so „effizient“ wie möglich zu gestalten sind, ohne die Bedürfnisse der Tiere und die Schäden für die Umwelt und die Gesundheit des Menschen zu berücksichtigen. Wenn man nur die Milchmenge oder die Fleischleistung pro Tier betrachtet, dann können nomadische Systeme in der Tat nicht mit industriellen Methoden konkurrieren. Aber unter dem Strich ist ihre Eiweißbilanz erheblich besser als die von Hochleistungstieren. Denn die genügsamen Tiere der Hirten erzeugen Protein aus anderweitig nicht verwertbarer Rohfaser, während die Futtermittel hochgezüchteter Rassen viel vom Menschen verwertbares Protein enthalten. Im Endeffekt verbrauchen industrielle Systeme mehr Protein, als sie erzeugen.

Von dorniger und holziger Vegetation zu wertvoller Milch 

Entscheidend für eine ökologische und ethische Nutztierhaltung sind Mobilität und Anpassung der Tierzahlen an lokal vorhandene Futterressourcen. Seit drei Jahrzehnten lebe und arbeite ich bei den Kamelhirten der Raika im Westen Indiens und erlebe täglich, wie ihre Herden scheinbar wertlose dornige und holzige Vegetation in extrem wertvolle Milch umwandeln, die lokal als Heilmittel für eine Reihe von Gesundheitsproblemen wie Diabetes und Tuberkulose geschätzt wird. In Allianz mit ihren Kamelen verwandeln die Raika also vermeintlichen Unrat in ein hochwertiges, gesundes Nahrungsmittel, nur mit Hilfe von Sonnenenergie und traditionellem Wissen. Nebenbei düngen sie auch noch organisch die Felder der Bauern. Ähnliche Systeme existieren vielerorts auf der Welt und bieten Lösungen für die wesentlichen Probleme der Menschheit und unseres Planeten: Verlust von Biodiversität, Klimawandel, Fehl- und Mangelernährung.

2026 ist von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Weideländer und Hirten erklärt worden. Wir können hoffen, dass die weltweit verbreiteten Systeme mobiler Tierhaltung dann endlich nicht mehr als Auslaufmodell, sondern als Zukunftsstrategie angesehen werden. Dafür ist es höchste Zeit, denn sonst sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.

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Bravo! Ein verständlicher Beitrag zu einer maßvollen Tierhaltung !

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erschienen in Ausgabe 3 / 2023: In der Stadt zu Hause
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