Welcher Anteil der „Armen“ weltweit in städtischen Gebieten lebt, wird viel diskutiert. Meist geht man davon aus, dass die Mehrheit in ländlichen Gegenden zu finden sei. Das beruht auf einer Fehlinterpretation der städtischen Armut. Schätzungen zufolge lebt jeder siebte Mensch in einer informellen Siedlung in Stadtgebieten des globalen Südens. Die meisten dieser mehr als eine Milliarde Menschen gelten nicht als extrem arm im Sinne der Grenze, die die Weltbank ermittelt hat. Sie hat dafür 1990 den gängigen Wert von einem Dollar pro Kopf und Tag aufgestellt und seitdem mehrfach aktualisiert, vor allem um der Inflation Rechnung zu tragen; derzeit liegt die Schwelle bei 2,15 US-Dollar in Kaufkraftparitäten. Wer pro Tag weniger als das Äquivalent dieses Betrags zur Verfügung hat, gilt als extrem arm.
Auch gemessen an vielen anderen Armutsgrenzen sind die meisten Städter nicht arm. Das liegt zum Teil daran, dass bei der Festlegung dieser Grenzen viel zu niedrige Kosten für das angesetzt werden, was außer Nahrungsmitteln zum Leben nötig ist, und zum Teil an Datenmangel über Dienstleistungen für die Bewohner informeller Siedlungen. Dort leben mehr als eine Milliarde Frauen, Männer und Kinder in minderwertigen, überfüllten und unsicheren Wohnungen. Den meisten fehlt Leitungswasser von guter Qualität im Haus sowie eine leistungsfähige Kanalisation. Auch stehen ihnen keine öffentlichen Dienstleistungen wie staatliche Schulen und Gesundheitszentren zur Verfügung. Viele sind von Vertreibung bedroht oder haben keinen Zugang zu staatlichen Hilfeleistungen und Initiativen zur Armutsbekämpfung, weil man dafür einen Nachweis über die Wohnadresse, ein Bankkonto oder beides braucht, und das bekommen sie nicht.
Natürlich treffen manche dieser Entbehrungen auch Haushalte mit höherem Einkommen. So sind auch außerhalb von informellen Siedlungen Wasserversorgung, Abwasserentsorgung und Müllabfuhr in urbanen Zentren oft unzulänglich. Vielen Menschen in städtischen Siedlungen fehlen mehrere der genannten Grundleistungen – wenn auch nicht unbedingt alle – und der eine Mangel macht den anderen schlimmer. So findet sich in jedem Stadtgebiet eine einzigartige Mischung von Frauen, Männern und Kindern, denen verschiedene lebenswichtige Dienste fehlen. Daten über die Kosten dieser Bedürfnisse jenseits von Nahrung werden in der Regel nicht erhoben.
Armutsgrenzen setzen das nötige Einkommen für urbane Räume viel zu niedrig an
Legt man die Grenze von einem Dollar pro Tag (beziehungsweise ihre Anpassungen nach oben) zugrunde, dann nimmt man an, dass überall das gleiche Einkommen nötig ist, um der Armut zu entkommen – in Dörfern wie in Klein-, Groß- und Megastädten, in armen Staaten oder Städten wie in wohlhabenden, boomenden. Und die meisten Armutsgrenzen setzen das nötige Einkommen für urbane Räume viel zu niedrig an. Sie berücksichtigen zum Beispiel nicht die Kosten für Mietzahlungen (in der Regel etwa 20 bis 30 Prozent des Haushaltseinkommens). Viele Menschen mit niedrigem Einkommen zahlen zudem für private (meist informelle) Dienstleistungen, die eigentlich der Staat bereitstellen sollte, wie Schulen, Gesundheitsfürsorge, Wasserversorgung, Abfallbeseitigung und Elektrizität sowie gute, sichere öffentliche Verkehrsmittel.
Wenn Armut nur am Einkommen gemessen wird, können Beteiligte am Ort auch wenig dagegen tun. Berücksichtigt man hingegen die genannten Bedürfnisse, dann sind der Umfang und die Bandbreite möglicher Maßnahmen gegen Armut viel größer.
Modernisierung erschwinglich gemacht
Viele der erfolgreichsten Initiativen gegen städtische Armut waren Verbesserungsmaßnahmen in informellen Siedlungen, die von Gemeinschaften vor Ort angeführt und von Behörden unterstützt wurden. Solche von Gemeinden betriebenen Aufwertungsprogramme umfassten in der Regel die gesamte Palette öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen wie Wasser, Abwasser und befestigte Straßen. Die Art der Maßnahmen (zum Beispiel die Wahl des Abwassersystems) variiert dabei je nach den örtlichen Gegebenheiten und dem Verhältnis zwischen Gemeinden und Kommunalverwaltungen.
In Gobabis, Namibia, hat zum Beispiel die Shack Dwellers Federation of Namibia ein von der Gemeinde geleitetes Modernisierungsprogramm zusammen mit der Namibian Housing Action Group und den städtischen Behörden durchgeführt: in Freedom Square, einer informellen Siedlung mit über 4000 Einwohnern. Die Kosten betrugen ein Fünftel dessen, was bei herkömmlichen Ansätzen aufgebracht werden muss, und waren so für viel mehr Haushalte erschwinglich. Die wichtigsten Innovationen: Sanierung statt Umsiedlung, von der Gemeinde selbst geleitete Datenerhebungen sowie Neuanordnung der Grundstücke, um die Schaffung von Infrastruktur und die Vergabe von Landtiteln zu ermöglichen.
Autor
David Satterthwaite
ist Wissenschaftler für das International Institute for Environment and Development und Gastprofessor für Stadtplanung am University College London. Zusammen mit Diana Mitlin hat er die Bücher „Urban Poverty in the Global South. Scale and Nature“ (2012) und „Reducing Urban Poverty in the Global South“ (2013) veröffentlicht.In Thailand finanziert und unterstützt das Community Organizations Development Institute (CODI) Gemeindeorganisationen, die Bewohner informeller Siedlungen für die Aufwertung ihrer Siedlung gegründet haben. Mehr als 100.000 Haushalte haben von diesem Programm profitiert. Das Beispiel ist insofern ungewöhnlich, als CODI eine Einrichtung der nationalen Regierung ist, die von den Gemeinden betriebene Aufwertung flexibel unterstützt.
Erhebungen in Eigenregie
Dass es wenig Daten über informelle Siedlungen gibt, in denen die meisten städtischen Armen leben, behindert wirksame Maßnahmen stark. Die Verbände der Slum- und Hüttenbewohner – sie sind in 32 Ländern aktiv – haben jedoch eine Methode zur Kartierung ihrer Siedlungen entwickelt. Aus über 600 Städten in vielen Ländern gibt es inzwischen Beispiele für Erhebungen in Slums, sehr detaillierte Slumerfassungen und Volkszählungen sowie Kartierungen dort. Durchgeführt haben sie Organisationen und Verbände der städtischen Armen und lokale NGOs, die mit ihnen zusammenarbeiten – beispielsweise in Ghana, Kenia, Indien, Namibia, Südafrika, Thailand, Uganda und Simbabwe.
Diese Verbände und NGOs haben sich zu Slum/Shack Dwellers International (SDI) zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen, unter anderem über von Gemeinschaften vorgenommene Erhebungen. Informelle Siedlungen werden meist in offiziellen Erhebungen nicht berücksichtigt; mit Erhebungen in Eigenregie zeigen Slumbewohner und deren Organisationen auch den Lokalregierungen, wozu sie fähig sind.
Viele dieser Initiativen haben groß angelegte Initiativen zur Armutsbekämpfung auf den Weg gebracht, in denen Vertretungen der städtischen Armen und lokale Behörden partnerschaftlich zusammenarbeiteten. So hat die Asian Coalition for Housing Rights mehr als 700 gemeindegetragene Modernisierungsmaßnahmen in 150 Städten in 19 Ländern Asiens unterstützt. Das Engagement der Bewohner bei der Kartierung ihrer Siedlung hilft ihnen, dringende Probleme zu identifizieren und zu analysieren. Das stärkt auch ihren Einfluss auf Vorgänge in der ganzen Stadt.
Eine weitere wichtige Innovation zur Bekämpfung der städtischen Armut sind Fonds, die von Gemeinden geleitete Initiativen und deren Partnerschaften mit lokalen Behörden unterstützen. So haben viele Verbände der Slum- und Hüttenbewohner regionale und nationale Fonds eingerichtet; ein Beispiel ist der Akiba Mashinani Trust in Kenia, den die kenianische Föderation der Slumbewohner eingerichtet hat, um Spargruppen sowie Darlehen für den Lebensunterhalt und für Gemeinschaftsprojekte mit Finanzdiensten zu unterstützen. Die Verbände von Slum- und Hüttenbewohnern waren zudem sehr wichtig für die Bewältigung der Covid-19-Pandemie und für den Aufbau von Widerstandsfähigkeit gegen Auswirkungen des Klimawandels auf ihren Lebensraum.
Aus dem Englischen von Anja Ruf.
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