Von Musik und Menschlichkeit

Oscar Espinosa
Ros Samoeun unterrichtet am Institut für die Entwicklung der Khmer-Kultur den 23-jährigen Chourn Reach am Tror, einem zweisaitigen Streichins­trument.
Kambodscha
Im Institut für die Entwicklung der Khmer-Kultur, einer Hilfsorganisation im Süden Kambodschas, kümmern sich Lehrende um Waisenkinder und unterrichten traditionelle Mahori-Musik. Vier blinde junge Männer träumen hier von einer Karriere als ­Profimusiker.

Es ist drei Uhr nachmittags an einem Werktag, aber wegen der flirrenden Hitze sind die Straßen Kampots im Süden Kambodschas menschenleer. Aus einem Garten im Zentrum der Kleinstadt mit rund 32.000 Einwohnern erklingt eine zarte Melodie. Zu hören sind Saiten-, Blas- und Schlaginstrumente, die mit ihrem feinen Zusammenspiel in der friedlich daliegenden Stadt eine Atmosphäre tiefer Ruhe schaffen. Dann bricht die Musik ab, man hört leise Stimmen, schließlich beginnt die Musik von Neuem.

Lehrmeister Ros Samoeun hat seine vier Studenten aufgefordert, das Stück noch einmal von vorne zu spielen. Und ohne ein Wort zu sagen, setzen die jungen Leute voller Ernst und Konzentration erneut an und berücksichtigen dabei die Anweisungen ihres Musiklehrers. Chourn Reach spielt mit seinem Tror, einem zweisaitigen Streichinstrument, die Melodie. Saron nimmt mit seiner Chakhe, einer dreisaitigen Zither in der Form eines Krokodils, einen großen Teil des Raums ein, Iem Rokhtai bläst die Khloy, eine Bambusflöte, und Kan Prak gibt auf der aus zwei kleinen Trommeln bestehenden Skor den Takt an.

Das kleine Mahori-Ensemble – Mahori ist eine Gattung der traditionellen Khmer-Musik – spielt mit den Instrumenten der Vorfahren im Institut für die Entwicklung der Khmer-Kultur (KCDI). Die 1994 von einer englischen Geigerin gegründete und von Privatpersonen und Stiftungen geförderte nichtstaatliche Organisation hat zwei Ziele: sich um Waisenkinder zu kümmern und traditionelle Kunst zu bewahren. Deren Zukunft war gefährdet, weil so gut wie alle Künstler des Landes im Verlauf des von den maoistischen Roten Khmer verübten Völkermordes von 1975 bis 1979 ums Leben gekommen waren.

In nunmehr fast drei Jahrzehnten wohnten Hunderte Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in dem Zentrum und fanden dort Zuflucht und qualifizierten Unterricht, um professionelle Künstler werden zu können. Im Augenblick leben hier zehn Waisenkinder im Alter zwischen 5 und 17 sowie vier blinde junge Männer zwischen 17 und 24 Jahren.

Lehrer Ros Samoeun war unter den Roten Khmer im Gefängnis

„Es macht mir große Freude, meine Kenntnisse an die jungen Leute weiterzugeben und zu wissen, dass sie zum Erhalt der traditionellen Khmer-Kunst beitragen werden“, sagt der stolze Lehrer Ros Samoeun. Der 76-Jährige hat selbst unter den Roten Khmer im Gefängnis gesessen und überlebt. Der ehemalige Professor an der Königlichen Universität der feinen Künste in Phnom Penh schloss sich 1997 dem KCDI-Projekt an. Seitdem unterrichtet er die Kinder des Zentrums in Mahori-Musik. Viele von ihnen sind inzwischen professionelle Musiker oder Tänzer.

2015 begann das Zentrum damit, blinde Kinder als therapeutische Maßnahme, aber auch zur beruflichen Qualifikation in Mahori-Musik zu unterrichten. „Ich hatte niemals zuvor blinde Schüler unterrichtet, das war für mich eine große Herausforderung“, erinnert sich Ros Samoeun. Sie seien sehr diszipliniert gewesen, und er habe mit vielen Wiederholungen arbeiten müssen, um ihnen die Melodien beizubringen. „Als Lehrer bin ich sehr stolz auf sie. Sie haben Talent und werden in der Lage sein, sich ganz der Musik zu widmen und so ihren Familien zu helfen“, sagt er. „Wenn sie in ihre Dörfer zurückkehren, werden sie bei Zeremonien spielen und singen können, und auch andere Musiker im traditionellen Smot-Gesang unterrichten – einer Art gesungener Lyrik, die vor allem bei Beerdigungen vorgetragen wird.“

Autorin

Laura Fornell

ist freie Journalistin und berichtet vor allem aus Afrika und Asien. Zusammen mit Oscar Espinosa hat sie das Amalgama Project für Reportagen aus aller Welt gegründet. www.amalgama-project.com
Der Tag beginnt hier um fünf Uhr morgens. Die Frühaufsteher verlassen die einfachen Schlafräume mit Blick auf den Garten und waschen sich in den Gemeinschaftsbaderäumen. Um sie herum stromern Hunde und holen sich die ersten Streicheleinheiten des Tages ab. Die zehn Waisenkinder gehen morgens früh zur Schule und werden nachmittags in traditioneller kambodschanischer Musik und Tanzkunst unterwiesen – teilweise von ehemaligen Schülern des Zentrums.

Die vier blinden jungen Männer gehen heute nicht zur Schule, sie bekommen hauptsächlich Musikunterricht. Saron und Iem Rokhtai sind 24 Jahre alt und damit die ältesten blinden Musikschüler im KCDI. Sie haben keinen Schulabschluss und sind mit 17 zum Zentrum und eben dort in Kontakt mit Musikinstrumenten gekommen.

Saron spielt heute Chakhe, Khloy und Tror. „Ich möchte Musiker und Musiklehrer werden“, antwortet er ohne zu zögern auf die Frage, wo er sich in ein paar Jahren sieht. „Ich arbeite schon jetzt gelegentlich als Musiker und habe schon die eine oder andere Hochzeits- oder Beerdigungszeremonie vollzogen“, berichtet er mit Stolz.

Saron übt vor dem Unterricht im Schlafraum der Schüler an der Bambusflöte Khloy.

Iem Rohkthai spielt die Khloy-Flöte und übt seit einem Jahr auch auf der Pelar – einer anderen Flötenart – und dem Skor. Auch für ihn ist klar, dass er weiter die Musik studieren und seinen Lebensunterhalt als unabhängiger professioneller Musiker verdienen möchte. Chourn Reach, 23, spielt Tror und Chapey – eine Laute mit zwei Saiten und einem sehr langen Hals. Er studiert im Abschlussjahr Jura an der Kampot Universität, wo er samstags und sonntags Seminare besucht. Von Montag bis Freitag besucht er Computerkurse an einem in der Nähe gelegenen Ausbildungszentrum, zu dem ihn ein Teenager aus dem KCDI begleitet. Wenn er nicht in Kursen oder Seminaren ist, übt Chourn Reach auf seinen Instrumenten. „Wenn ich meinen Abschluss habe, möchte ich die Prüfung ablegen, um in Phnom Penh für die Anwaltsvereinigung des Königreichs Kambodscha zugelassen zu werden. Danach aber möchte ich in Kampot als Anwalt arbeiten und mit der Musik verbunden bleiben“, erklärt er.

Auch der jüngste der vier, der 17-jährige Kan Prak, sieht in der Musik seine Zukunft. Er spielt Skor und Khloy, singt aber auch leidenschaftlich gern und rezitiert Smot-Gedichte. Von sieben bis elf Uhr besucht er täglich die sechste und damit die Abschlussklasse der öffentlichen Schule – zusammen mit zehn jüngeren Mädchen und Jungen im Alter zwischen neun und zwölf. Dort sitzt er an einem Tisch in der ersten Reihe, direkt gegenüber seiner Lehrerin Naybuntho, die Braille beherrscht und ihm Lesen und Schreiben beibringt. „Kan Prak ist ein guter Schüler, auch wenn er noch einige Schwierigkeiten mit Braille hat“, sagt sie zufrieden. Er strenge sich an und sei immer sehr motiviert. Während andere Kinder den gelernten Stoff in ihre Bücher notieren, fährt Kan Prak unter den Augen seiner Lehrerin, die ihn ab und zu korrigiert, mit seinen Fingern über das Braille-Blatt in seinem Buch und liest den Stoff laut vor.

Der 17-jährige Kan Prak sieht seine Zukunft in der Musik. Dennoch geht er vormittags in die Schule, wo ihn seine Lehrerin Naybuntho in der Blindenschrift Braille unterrichtet.

Von elf Uhr an kommen dann nach und nach alle 14 Schüler im Zentrum zum Mittagessen zusammen. Wie eine große Familie, sammeln sie sich an den vier Tischen des Speisesaals neben der Küche. Es gibt Huhn mit Reis, die Älteren helfen den Jüngeren beim Essen. Danach ruhen sich alle erst einmal ein bisschen aus, einige in ihren Zimmern, andere in den Hängematten, die an den Bäumen im Garten befestigt sind.

Das Stück wird so lange geübt, bis alle zufrieden sind

Gegen 14 Uhr gehen die vier blinden Schüler herüber zu dem kleinen Musikraum, in dem sie ihr Lehrer Ros Samoeun erwartet. In den folgenden zwei Stunden wird er sie in Mahori-Musik unterrichten. „Das ist die Tageszeit, die ich am meisten genieße“, gesteht Saron, während er vor seinem Instrument sitzt und darauf wartet, dass der Unterricht beginnt. Seine drei Klassenkameraden nicken lächelnd, während auch sie an ihre Plätze gehen. Saron steht links, Iem Rokhtai in der Mitte, Chourn Reach rechts und Kan Prak hinter den dreien. Nachdem sie ihre Instrumente gestimmt haben, beginnen sie ein traditionelles Stück zu spielen.

Lehrer Ros Samoeun instruiert sie dabei und lässt sie Teile des Stücks wiederholen, mit denen sie sich noch schwer tun, manchmal einzeln, manchmal alle zusammen. So lange, bis alle zufrieden sind. Dann machen sie eine kurze Pause, legen ihre Instrumente zur Seite und setzen sich auf den Boden. Vor ihnen hat ihr Lehrer vier Stühle aufgebaut, die ihnen als Schreibtische dienen, darauf weiße Blätter, eine Schiefertafel und einen Schreibgriffel zum Schreiben in Braille. Jetzt konzentrieren sie sich darauf, Smot-Verse zu lernen. Mit Hilfe der Sprachfunktion ihrer Smartphones rufen die vier einen Gesang aus Youtube auf. Sie hören ihn an, schreiben ihn in Braille nieder und führen ihn dann vor ihrem Lehrer und ihren Mitschülern auf. „Heute haben wir uns die Verse aus Youtube geholt, aber oft ist es auch unser Lehrer, der uns einen Smot-Gesang lehrt, indem er ihn mehrmals vorträgt, so dass wir uns den Text notieren können“, erklärt Chourn Reach. Dann gleiten seine Finger über das Braille-Blatt mit dem Text für den Gesang, den er, begleitet von seiner Chapey, vortragen möchte.

Chourn Reach und seine Chapey, eine zweisaitige Langhalslaute.

Auch als kambodschanischer buddhistischer Gesang bekannt, wird Smot üblicherweise bei Begräbniszeremonien von einer Solo-Stimme vorgetragen. Die poetischen Texte beziehen sich oft auf das Leben und die Lehren Buddhas, auf traditionelle Khmer-Geschichten sowie religiöse und moralische Grundsätze wie etwa Dankbarkeit und Respekt gegenüber den Eltern und älteren Menschen im Allgemeinen. „Mir ist es sehr wichtig, die jahrhundertealte Tradition der Smot weiterzuführen, die die Roten Khmer zerstören wollten, indem sie so viele Meister töteten“, sagt Meister Ros Samoeun. Es brauche sehr viel Übung, um diese Vortragskunst zu erlernen und tiefes Wissen über das Repertoire zu erlangen, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Seine Schüler hätten zwar noch eine Menge zu lernen. „Aber nur sie können dafür sorgen, dass diese traditionelle musikalische, soziale und liturgische Ausdrucksform in kommenden Generationen weiterlebt.“

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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