Wenige Tage vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine veröffentlichten 90 Persönlichkeiten aus Politik, Presse, Wirtschaft, Diplomatie und Kultur Ende Februar einen offenen Brief zur sicherheitspolitischen Lage. Sie treten für eine „ergebnisoffene Diskussion österreichischer Sicherheitspolitik“ ein. Trotz der Rückkehr des Krieges in Europa „sind weite Teile der heimischen Politik und Gesellschaft der Illusion verfallen, Österreich könne so bleiben wie es ist“ und habe mit etwas mehr Geld für das Bundesheer genug getan, heißt es in dem Schreiben. Das Bundesheer sei „noch immer unvorbereitet, die Heimat ernsthaft zu verteidigen und anderen EU-Staaten wie eigentlich versprochen beizustehen“, heißt es weiter. Österreich werde in der Nato als Trittbrettfahrer gesehen, der den Schutz des Bündnisses gerne in Anspruch nehme, selbst aber nur minimal in die eigene Verteidigung investiere.
Vergangenes Jahr hat Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) die Debatte für beendet erklärt, bevor sie noch anfangen konnte: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral und Österreich bleibt neutral. Und damit ist für mich die Diskussion beendet“, sagte er im Mai vorigen Jahres bei einem Besuch in Prag. Diesmal rückte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler für die ÖVP aus. In einem Fernsehinterview erklärte sie: „Die Neutralität ist identitätsstiftend für Österreich. Das war so und es wird so sein. Das heißt aber nicht, dass wir nicht über eine Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur nachdenken müssen.“
Österreich vollführt einen Eiertanz
Im Ukraine-Krieg vollführt Österreich, das in der EU neben Ungarn am stärksten von russischem Gas abhängig ist, einen Eiertanz. Wien liefert weder Rüstungsgüter an die Ukraine, noch bildet es ukrainische Soldaten an deutschen Leopard-Panzern aus. Österreich beteiligt sich aber finanziell an entsprechendem Training in anderen Staaten. David Stögmüller, Wehrsprecher der Grünen, sagte: „Ich glaube, dass man sehr wohl darüber diskutieren hätte sollen, ob es hier Möglichkeiten gibt. Die Ukraine ist ja kein Nato-Mitglied. Man hätte hier sehr wohl Ausbildungsplätze anbieten können.“
Gespalten ist auch die Bevölkerung. Die Meinung, die Ukraine sollte sich auf Kompromisse einlassen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ist weit verbreitet. Linke Antiimperialisten demonstrierten Anfang Februar gemeinsam mit Rechtsnationalen vor der deutschen Botschaft in Wien gegen Panzerlieferungen. Vor der russischen Botschaft wurde schon sehr lange nicht mehr demonstriert.
Stögmüller fordert im Einklang mit den Unterzeichnern des offenen Briefes die Überarbeitung der österreichischen Sicherheitsdoktrin: „Dass die Doktrin sowohl die USA als auch Russland als strategische Partner anführt, kann aktuell nicht mehr für Österreich gelten.“ Die Neutralität, so der Wehrsprecher, solle nicht aufgegeben, aber inhaltlich neu diskutiert werden.
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