Wenige schwelgen in Luxus, Viele haben nichts zu essen

Polaris/laif/Claudia Guadarrama/Polaris/laif
Von dem leichten wirtschaftlichen Aufschwung in Venezuela spüren die Armen im Petare-Viertel wenig. Das im Westen des Stadtgebiets von Caracas gelegene Petare gilt als das größte Stadtviertel Lateinamerikas und als eines der gewalttätigsten Stadtviertel der venezolanischen Hauptstadt. Hier sind die Auswirkungen der Krise, wie der Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Wasser, am stärksten zu spüren (aufgenommen im Februar 2018).
Venezuela
Die Regierung Venezuelas hat die rigide sozialistische Wirtschaftspolitik gelockert. Das hat die Armut leicht sinken lassen, aber die Ungleichheit stark vergrößert. 

Mitte November 2022 hat im reichen Geschäftsviertel Las Mercedes der venezolanischen Hauptstadt Caracas der Kaufhaus-Glaspalast Avanti geöffnet, der aussieht wie von der US-amerikanischen Luxus-Kaufhauskette Saks Fifth Avenue. Besitzer ist ein palästinensisch-venezolanischer Geschäftsmann; teuerste Modemarken wie Balenciaga, Gucci, Versace und Valentino dominieren das Angebot. Für Luxusgüter wie einen 110.000 US-Dollar teuren Fernseher von Samsung gab es im Handumdrehen eine Warteliste.

Obwohl die Bevölkerung Venezuelas weitgehend in Armut lebt, war die Eröffnung des Avanti in der Hauptstadt keine Verirrung. Im vergangenen Jahr sind in Caracas Hunderte von neuen Restaurants, Modegeschäften und Nachtclubs aufgetaucht – darunter ein Lokal, das an einem Kran schwebt, so dass die Gäste beim Diner über die Skyline von Caracas blicken.

Diese Blase, wie das Phänomen in den sozialen Medien genannt wird, geht auf einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik von Präsident Nicolás Maduro zurück. Nachdem Venezuela einen der größten Zusammenbrüche einer Volkswirtschaft in Friedenszeiten und eine Serie von Sanktionen erlebt hatte, hat die autoritäre Regierung sich vom rigiden sozialistischen Kurs von Maduros Vorgänger Hugo Chávez wegbewegt zugunsten einer gemäßigten wirtschaftlichen Liberalisierung. Zu den Neuerungen der jüngsten Jahre gehört, dass Zölle auf viele Importe abgeschafft sowie Preis- und Devisenkontrollen aufgehoben wurden. Zudem wird der US-Dollar nun landesweit als Zahlungsmittel akzeptiert und hat den heimischen Bolívar praktisch ersetzt.

Mehr Menschen finden im offiziellen Sektor Arbeit

Die Wirtschaft des ölreichen Landes, die acht Jahre lang geschrumpft war, wächst seit dem Jahr 2022 wieder deutlich. Die Armut geht zurück, die Inflation ist zwar noch hoch, aber keine Hyperinflation mehr, und Nahrungsmittelengpässe sind weitgehend überwunden. Doch nicht alle profitieren vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die nur begrenzten Wirtschaftsreformen haben das Land in eine „Hölle der Ungleichheit“ geführt, sagt der Ökonom Omar Zambrano, der die in Caracas ansässige Denkfabrik Anova Policy Research leitet.

Die wirtschaftlichen Trends schlagen sich in der jüngsten landesweiten Umfrage zu den Lebensbedingungen (ENCOVI) nieder, die die Katholische Universität Andrés Bello im November 2022 veröffentlicht hat. Seit dem Zusammenbruch des staatlichen Statistiksystems ist diese Erhebung die wichtigste Datenquelle für Venezuela. Laut der Umfrage ist der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze von 90,9 Prozent im Jahr 2021 auf 81,5 Prozent im Jahr 2022 zurückgegangen.

Zu den Gründen dafür gehört, dass wieder mehr Menschen im offiziellen Sektor Arbeit finden und die Löhne in der Privatwirtschaft gestiegen sind, sagt Anitza Freitez, die Dekanin des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung der Universität Andrés Bello und eine der beiden Koordinatoren von ENCOVI. Höhere Einkommen haben auch dazu geführt, dass weniger Menschen von sogenannter mehrdimensionaler Armut betroffen sind; im Jahr 2021 waren das noch 65,2 Prozent aller Haushalte, ein Jahr später 50,5 Prozent. In diesen Index gehen neben dem Einkommen auch der Beschäftigungsstatus, Bildung, die Lebensumstände und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ein. 

„Eine deprimierende und beschämende Situation“

ENCOVI zeigt aber auch die Schattenseiten: Venezuela gehört zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit weltweit. Das Land wies noch in den frühen 2010er Jahren die geringste Ungleichheitsrate in ganz Lateinamerika auf – jetzt ist es die höchste auf dem ganzen amerikanischen Kontinent. Die reichsten 10 Prozent der venezolanischen Bevölkerung haben 70 Mal mehr als das ärmste Zehntel.

Selbst Akademiker haben zu kämpfen. Elvia Jurado, eine Juraprofessorin, lehrt seit 32 Jahren an der Universität von Carabobo. Ihr Gehalt von etwa 35 US-Dollar, das sie alle zwei Wochen erhält, wird ihr nach wie vor in Bolívar ausbezahlt, der rasant an Wert verliert. Gehaltsanpassungen „halten mit der wirtschaftlichen Realität nicht Schritt“, sagt sie. „Es ist eine deprimierende und beschämende Situation.“ Ihre Kollegen, fügt Jurado hinzu, tragen kaputte Schuhe, können ihren Kindern keinen Geburtstagskuchen bieten und stehen ständig vor der Frage, ob sie lieber Fleisch oder Benzin kaufen sollen. „Wir sind akademische Habenichtse“, sagt sie.

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Hohe Ungleichheit findet sich auch zwischen den Landesteilen. Nach Angaben von ENCOVI finden sich 37,8 Prozent der reichsten Haushalte Venezuelas in Caracas, obwohl da nur 16 Prozent der Haushalte des Landes leben. Und nach Angaben der in Caracas ansässigen Firma Ecoanalítica erwirtschaftet die Stadt heute ein gutes Drittel des Bruttoinlandprodukts, obwohl es dort nur wenig Industrie gibt. „Die Wirtschaftsbereiche, die den Rest des Landes getragen haben – Erdölförderung, Industrieproduktion, industrialisierte Landwirtschaft und Bergbau –, sind weggebrochen. Caracas ist dagegen ein Handelszentrum mit hohem Konsum“, erklärt Jesús Palacios Chacín, leitender Ökonom bei Ecoanalítica. Als Anfang Dezember die größte Raffinerie des Landes ausfiel und sich außerhalb von Caracas lange Warteschlangen an den Tankstellen bildeten, sponserte die Regierung in Caracas gerade eine Verkehrsmesse mit Luxusrennwagen und Heißluftballons auf einem Militärflugplatz, wo es mittlerweile auch ein Sushi-Restaurant gibt.

Zweithöchste Rate an unterernährten Einwohnern

Und obwohl die Armut leicht zurückgegangen ist, ist sie immer noch abgrundtief – kaum erträglicher als in den schlimmsten Jahren der Krise, als im ganzen Land die Lebensmittel knapp wurden, die Hyperinflation die Gehälter auffraß und die Venezolaner stark an Körpergewicht verloren. Zwar hat sich die Ernährungslage inzwischen etwas gebessert, doch laut ENCOVI verzeichnet Venezuela immer noch die zweithöchste Rate an unterernährten Einwohnern auf dem amerikanischen Kontinent.

ENCOVI erhebt auch „sozial bedingte Armut“ mit einem Indikator, der Bildung, Wohnen und Gesundheit berücksichtigt. Sie ist sogar häufiger geworden: Im Jahr 2019 traf sie 31 Prozent der Haushalte, im vergangenen Jahr waren es bereits 42 Prozent. Diese Menschen leiden am stärksten unter den ständigen Ausfällen der Wasser- und Stromversorgung, dem unterfinanzierten Bildungssystem und dem miserablen Verkehrssystem. Um diese Probleme zu lösen, sind öffentliche Ausgaben nötig, aber die Politik hat derzeit keine Pläne, sich darum zu kümmern.

Zusammenbruch des venezolanischen Bildungssystems

Der Hauptgrund für das Anwachsen der sozialen Armut ist der Zusammenbruch des venezolanischen Bildungssystems, sagt Luis Pedro España, der zweite Koordinator von ENCOVI. Das Bildungswesen leidet unter Mangel an Lehrkräften, schlechten Transportmöglichkeiten, fehlender Schulverpflegung und baufälligen Schulgebäuden. Die Pädagogische Fakultät der Katholischen Universität Andrés Bello hat kürzlich 16.000 Abschlusszeugnisse ausgewertet, die an Schulen in Caracas und in 17 Bundesstaaten ausgestellt wurden. Danach haben zwei Drittel der Absolventen Mängel in Mathematik und drei Fünftel Schwächen bei den Sprachkenntnissen. Laut ENCOVI haben zwischen 2019 und 2022 rund 740.000 Schülerinnen und Schüler die Schule abgebrochen, meist aufgrund von Ernährungsunsicherheit oder Migration. „Anderthalb Millionen Kinder und Jugendliche sind aus dem Bildungssystem gefallen“, konstatiert Freitez.

Ein weiterer Grund für den Anstieg der Ungleichheit ist, dass die neue Wirtschaftspolitik den meisten venezolanischen Industriezweigen nicht hilft. Laut Zambrano hat das Maduro-Regime versucht, die Auswirkungen der Sanktionen und der Schrumpfung der Wirtschaft dadurch abzuschwächen, dass Importe direkt an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeleitet werden. Von dieser Politik haben zwar Supermärkte, Restaurants und Einkaufszentren profitiert. Doch „in diesen Sektoren, die sich erholen, entstehen relativ wenig Arbeitsplätze“, so Zambrano. So bleibt ein Großteil der Bevölkerung von der wirtschaftlichen Erholung ausgeschlossen.

Ölindustrie ist noch immer mit Sanktionen belegt

Währenddessen leiden große Bereiche der venezolanischen Wirtschaft, von der Industrie bis zur Landwirtschaft, weiter unter den Folgen des wirtschaftlichen Ruins. Die Ölindustrie ist immer noch mit Sanktionen belegt. Die staatliche Ölgesellschaft, die von Leuten mit hoher Loyalität zur Regierung und wenig Qualifikation sehr schlecht verwaltet wird und von Korruption geplagt ist, hat die Ölinfrastruktur des Landes praktisch zerfallen lassen; im vergangenen Jahr kam es laut der venezolanischen Beobachtungsstelle für politische Ökologie (Observatorio de Ecología Política de Venezuela) pro Monat durchschnittlich sieben Mal vor, dass aus Pipelinelecks Öl ausgetreten ist. Einige der verfallenen Fabriken und Pipelines Venezuelas werden demontiert und als Schrott exportiert, während Vermögenswerte und Ländereien, die unter den Chavistas enteignet wurden, an treue Anhänger übergeben statt rechtmäßig reprivatisiert werden.

Laut Zambrano bräuchte die venezolanische Wirtschaft 20 bis 30 Jahre kontinuierliches Wachstum, um wieder den Stand von vor der Krise zu erreichen. Das Problem ist allerdings, dass ausländische Investoren kein Vertrauen in die Institutionen des Landes haben. „Ungesicherte Rechtsverhältnisse, wie sie in Venezuela herrschen, schrecken Investoren ab“, sagt Palacios Chacín.
Selbst wenn sich die leichte wirtschaftliche Erholung fortsetzt, so España, wird die Armut nur sehr langsam zurückgehen. Ob sie sich fortsetzt, steht aber in den Sternen: Viele Wirtschaftsexperten erwarten, dass sich das Wachstum 2023 verlangsamt. Und so sagt España: „Man muss eher damit rechnen, dass die Armut in ein oder zwei Jahren wieder zunimmt.“ Während in der Zwischenzeit reiche Restaurantgäste über den glänzenden neuen Hochhäusern und den alten Slums von Caracas schweben und speisen.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

Tony Frangie-Mawad ist venezolanischer Journalist und betreibt den englischsprachigen Newsletter „Venezuela Weekly“. Sein Text ist zuerst auf Englisch in „Foreign Policy“ erschienen. 

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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