"Die Vereinten Nationen sind tot“, schrieb die britische Zeitung „Catholic Herald“ 1947, nur zwei Jahre nach der Gründung der Weltorganisation. Berichte über ihren Untergang gibt es immer wieder, aber in diesem Jahr scheinen sie einen Höhepunkt erreicht zu haben: Russlands Einmarsch in der Ukraine gilt als Lackmustest für die 78 Jahre alten UN. Russland ist zwar nicht das erste der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (P5), das in ein anderes Land einmarschiert. Aber es ist offensichtlich, dass es den UN nicht gelungen ist, den Einmarsch zu verhindern oder zu sanktionieren.
Hätten sie es besser machen können? Einige Kommentatoren meinen, die UN hätten gar nicht so schlecht ausgesehen. Sie weisen zu Recht auf den Kompromiss bei ihrer Gründung hin, wonach die P5-Staaten Großbritannien, China, Frankreich, Russland und die USA in ihrer Handlungsfreiheit nicht beschränkt werden können. Angesichts dessen habe die Organisation eine Antwort auf die Invasion gegeben, die in den meisten anderen Situationen undenkbar gewesen wäre.
Weil der Sicherheitsrat von Russlands Veto gelähmt wurde, hat die Generalversammlung vier Resolutionen verabschiedet, in denen sie Moskaus Vorgehen scharf verurteilt. Der Menschenrechtsrat hat eine Untersuchungskommission und einen Sonderberichterstatter für Russland eingesetzt – erstmals überhaupt für einen P5-Staat. UN-Generalsekretär António Guterres hat sich ungewöhnlich offen zu dem Krieg geäußert und eine Schlüsselrolle beim Abkommen über Getreidelieferungen aus ukrainischen Schwarzmeerhäfen gespielt. Das gesamte UN-System hat Alarm geschlagen wegen der Auswirkungen der Invasion auf die globalen Lebensmittel- und Energiemärkte.
Eine anachronistische Sicht auf die UN
Andere Autoren und Fachleute, vor allem aus den P5-Ländern, haben eine arg beschränkte Sicht auf die UN, die fast so anachronistisch ist wie der Sicherheitsrat selbst. Sie sagen, die UN seien nie zu mehr gedacht gewesen, als Konfrontationen zwischen Großmächten zu verhindern. Sie ignorieren damit, wie sich das UN-System in den vergangenen sieben Jahrzehnten entwickelt hat, sowie die Frage, wer heute eigentlich eine Großmacht ist. Die Ukrainer, die an der Front kämpfen und leben, werden in diesen Argumenten kaum Trost finden. Ebenso wenig wie die Menschen in der äthiopischen Provinz Tigray, die der Sicherheitsrat Ende des vergangenen Jahres im Stich gelassen hat, als China und Russland eine Erklärung afrikanischer Staaten zum Krieg dort blockierten. Oder die Palästinenser, die seit Jahrzehnten unter dem Veto leiden. Marode Vereinte Nationen können wenig für all diese Menschen tun. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass das System besser funktioniert.
Autorin
Natalie Samarasinghe
leitet die Abteilung Global Advocacy bei den Open Society Foundations. Davor war sie unter anderem Geschäftsführerin der britischen United Nations Association sowie in der UN-Zentrale in New York tätig.Doch so kommt die UN-Reform nicht vom Fleck. Stattdessen wäre jetzt der Moment, neue für den Wandel notwendige politische Koalitionen zu bilden und kreativer über das UN-System als Ganzes nachzudenken. Die derzeitige Fokussierung auf den Sicherheitsrat und die P5 verstärkt nur das Machtungleichgewicht in den UN. Stattdessen braucht es neue Ansätze, um die kollektive Macht der übrigen 188 Mitglieder besser zu nutzen – zumal die USA und die Europäer versuchen, globale Solidarität gegen Russlands Aggression zu demonstrieren.
Kleine und mittelgroße Länder könnten mehr einfordern
Kleinere und mittelgroße Länder könnten sich beispielsweise für durchführbare Reformen einsetzen, um jene Privilegien der P5 zu beschneiden, die ihnen etwa ermöglichen, die Ausarbeitung von Resolutionen im Rat entscheidend zu beeinflussen. Sie könnten auch auf eine stärkere Rolle der Afrikanischen Union bei der Formulierung von Mandaten für Peacekeeping-Missionen drängen und unter anderem sicherstellen, dass AU-Missionen über den UN-Haushalt finanziert werden.
Ebenso könnten sich Länder weigern, für einen Sitz im Sicherheitsrat zu kandidieren, so dass die P5 gezwungen wären, die Verantwortung für ihr Versagen zu übernehmen. Sie könnten in den Streik treten, indem sie sich nicht an anderen UN-Wahlen beteiligen und keine Kandidatinnen und Kandidaten für Positionen aufstellen, bis ihre Forderungen nach Fortschritt erfüllt sind.
Konsens, die Generalversammlung aufzuwerten
Die stärkste Maßnahme der 188 Mitglieder wäre jedoch, dass sie sich untereinander einigen, welche Staaten für künftige ständige oder längerfristige Sitze im Sicherheitsrat kandidieren sollen. Derzeit können es sich die P5 leisten, lautstark nach Reformen zu rufen, da sie wissen, dass eine solche Einigung unwahrscheinlich ist.
Schon heute besteht ein breiter Konsens unter den UN-Mitgliedern, die Generalversammlung in Fragen zu Frieden und Sicherheit zu aufzuwerten. Diese hat in der Vergangenheit das Mandat von Peacekeeping-Missionen gestärkt, weitreichende Sanktionen (etwa gegen das Apartheidregime in Südafrika) befürwortet und in jüngerer Vergangenheit einen Mechanismus geschaffen, der die Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen in Syrien stärkt. Erst vor einem Jahr hat sie beschlossen, obligatorisch zusammenzutreten, wenn im Sicherheitsrat ein Veto eingelegt wird. Darüber hinaus könnte die Generalversammlung enger mit dem Menschenrechtsrat und anderen in Genf ansässigen juristischen UN-Institutionen zusammenarbeiten.
Die „Rückkehr zur Geopolitik“ hat fatale Folgen
Zudem müssen wir über die überkommenen Organisationen und Institutionen im Bereich Frieden und Sicherheit hinausschauen. Die sogenannte Rückkehr der Geopolitik hat die entwicklungspolitische und humanitäre Arbeit der UN, die sehr wichtig für die Konfliktprävention und die Friedenskonsolidierung ist, in den Hintergrund gedrängt. Diese Arbeit verschlingt den Großteil der UN-Ressourcen und ist zugleich unterfinanziert. Wie viel mehr könnten die Vereinten Nationen erreichen, wenn sie sich auf ihre Stärken wie die Vermittlung und die Normsetzung besinnen würden. Und wie viel druckvoller wären ihre Beschlüsse, wenn Parlamente, lokale Regierungen und die Zivilgesellschaft in die Entscheidungsfindung eingebunden würden.
In zu vielen UN-Debatten wird ein Ende des „business as usual“ gefordert, aber solange sich die Strategien nicht ändern, werden es auch die UN nicht tun. Es braucht neue politische und kreative Energie. Die UN kann sich ändern, aber nur, wenn andere, neue Wege ausprobiert werden. Die Völker der Welt hätten es verdient.
Aus dem Englischen von Tillmann Elliesen.
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