Ein Bruderzwist bedroht den Irak

Laurent Perpigna Iban
Anhänger von Muktada al-Sadr zeigen in Nadschaf sein Porträt. In Sadr City gelten die Milizen von al Haschd asch-Schabi als Feinde.
Verfeindete Milizen
Die schiitische Mehrheit im Irak ist in zwei Lager gespalten, und deren Milizen sind bereit, einander erneut zu bekämpfen. Bisher können schiitische Geistliche mäßigend auf sie einwirken – die Frage ist, wie lange noch.

Eine trostlose Atmosphäre herrscht in Sadr City, dem Stadtviertel am nordöstlichen Rand von Bagdad. Die riesige Siedlung wird schachbrettartig von breiten Straßen und unbefestigten Gassen durchzogen. Hier schlagen sich mehr als zwei Millionen Menschen durch – zwischen Müll, schlammigen Pfützen und Gewehrfeuer. Armut und das Gefühl der Vernachlässigung sind an jeder Straßenecke greifbar.

Paradoxerweise werden die Bewohner, um deren Lebensverhältnisse sich niemand zu scheren scheint, zugleich politisch heftig umworben. Sadr City ist die Hochburg des hitzigen Schiitenführers Muktada al-Sadr, der sich als Vorkämpfer der irakischen Souveränität gibt. In den Jahren nach 2003 führte er den bewaffneten Aufstand gegen die Amerikaner an; heute stellt er sich gegen die Strömung seiner pro-iranischen Rivalen. Mit dem Namen Sadr City wird sein Vater Muhammad Sadiq as-Sadr geehrt, ein hoch angesehener schiitischer Geistlicher, den das Regime von Saddam Hussein 1999 hinrichten ließ.

Noch im Oktober 2021 herrschte in den Straßen von Sadr City Hochstimmung: Muktada al-Sadr hatte bei den Parlamentswahlen, die infolge der großen Proteste im Jahr 2019 vorgezogen worden waren, den pro-iranischen Block geschlagen; seine „Reformallianz“ wurde mit 73 von 329 Sitzen stärkste Kraft. Das hätte ihm erlauben sollen, eine Regierung zu bilden. Aber nach einem von Machtkämpfen und Blockaden geprägten Jahr kamen im Oktober 2022 seine schiitischen Rivalen an die Macht. Schon im Sommer 2022 erklärte al-Sadr seinen Rückzug aus der Politik; er sei es leid, dass ihm „die Hände gebunden“ seien. Heftige Kämpfe zwischen seinen Anhängern und ihren Gegnern mitten in der Grünen Zone von Bagdad forderten damals Dutzende Menschenleben, bis auf fast wundersame Weise die Waffen schwiegen.

Das Lager der Sadr-Anhänger organisiert sich

Seitdem liegt ein brüchiger Friede über dem Land, und die Stimmung in Sadr City ist angespannt. Viele dort sehen den Hauptgegner in den al-Haschd asch-Schabi, den „Volksmobilisierungskräften“. Dieses Bündnis aus 80 Milizen von überwiegend pro-iranischer Tendenz wurde ursprünglich zur Bekämpfung der Terrororganisation „Islamischer Staat“ gebildet und inzwischen in die staatlichen Sicherheitskräfte integriert.

Autor

Laurent Perpigna Iban

ist freier Journalist und Fotograf und bereist regelmäßig den Nahen Osten. Eine frühere Fassung des Textes ist auf https://orientxxi.info erschienen.
Angesichts dieses schlagkräftigen Gegners hat sich das Lager der Sadr-Anhänger organisiert. Einwohner bestätigen im September und Oktober, dass in den Vorstädten wochenlang Detonationen zu hören waren. Dort trainierte eine al-Sadr nahestehende Miliz abseits von ungebetenen Blicken an schweren Waffen. „Das hat nach der Amtseinführung des Premierministers aufgehört. Aber die Anhänger von Sadr sind verbittert und warten nur auf den Marschbefehl ihres Anführers“, erklärt ein junger Mann. Zum Beweis zeigt er uns Whatsapp-Gruppen, in denen sich Unterstützer von al-Sadr „vernetzen und auf den Ernstfall vorbereiten“.

„Die Anhänger von al-Sadr sind ganz normale Leute. Es können hier alle sein, kleine Händler, Taxifahrer, Arbeitslose. Im Unterschied zu den Mitgliedern der al-Haschd asch-Schabi bekommen sie keinen Sold. Doch wenn Muktada al-Sadr sie braucht, sind sie zur Stelle. Viele hier sind bereit, sich ihnen anzuschließen“, erklärt ein Einwohner.

Unmut gegen die Regierung, Zorn auf den Iran

Der 25-jährige Sajad ist Grundschullehrer in Sadr City. Er sieht in Muktada die einzige Hoffnung für sein Land: „Er hat gegen die amerikanischen Besatzer gekämpft, heute stellt er sich gegen den Iran und seine Milizen. Er ist der einzige Politiker, der irakisches Blut in den Adern hat, selbst unsere Gegner erkennen das an. Die Einmischung des Iran im Irak, seine Milizen und die von ihm kontrollierten Parteien ruinieren uns.“

Der dreißigjährige, erwerbslose Malik betont den Unmut gegen die Regierung in Sadr City. „Uns hat man schon immer an den Rand gedrängt, daran hat sich nichts geändert. Es gibt keine Arbeit, das Leben hier ist hart für alle. Die Schulen sind schlecht, öffentliche Dienstleistungen gibt es nicht, die Infrastruktur ist miserabel. Dabei hat Sadr City dem Irak so viel gegeben – Schriftsteller, Akademiker und all die Märtyrer im Kampf gegen den Islamischen Staat und gegen die Amerikaner. Die meisten stammen von hier.“

Im „Tal des Friedens“

180 Kilometer südlich von Bagdad liegt Nadschaf. Die den Schiiten heilige Stadt ist zwischen den beiden Strömungen geteilt. Trotzdem herrscht eine gewisse religiöse Ruhe – gestützt von dem wirtschaftlichen Wohlstand, den das Geld der Pilger bringt.

Wadi as-Salam, das „Tal des Friedens“ in Nadschaf, ist mit mehr als fünf Millionen Grabstellen der größte Friedhof der Welt. Hier ziehen Dutzende Menschen am Grabmal von Abu Mahdi al-Muhandis vorbei; der Kommandeur der al-Haschd asch-Schabi wurde im Januar 2020 bei dem US-amerikanischen Drohnenangriff auf den iranischen Kommandeur der Quds-Brigaden, Qasem Soleimani, ebenfalls getötet.

Schiiten beweinen im September 2022 Abu Mahdi al-Muhandis in dessen Schrein in Nadschaf. Der Anführer der Milizen al-Haschd asch-Schabi wurde Anfang 2020 bei einem US-Drohnenangriff getötet.

Vor einer zu Tränen gerührten Menschenmenge schwört ein Milizionär, dass dieser Tod, „der noch keine Sühne gefunden hat, eines Tages gerächt wird“. Die schiitischen Milizen sind hier sehr populär, aber die Konflikte zwischen ihnen scheinen nicht in den Friedhof zu dringen. „Die Anhänger von Muktada al-Sadr kommen hierher, wir besuchen das Grabmal von Muhammad Sadiq as-Sadr, das macht keine Probleme“, versichert ein Milizionär.

Im Innern eines Mausoleums mit mehreren Hundert Grabstellen von Mitgliedern der zu al-Haschd asch-Schabi gehörenden Miliz Asaib Ahl al-Haq beweint eine Familie Angehörige, die im Kampf gegen den Islamischen Staat gefallen sind. Ihre politischen Ansichten sind vom Verlust ihrer Verwandten geprägt: „Sie sind als Märtyrer zur Rettung des Irak gefallen. Vor dem Islamischen Staat haben sie al-Qaida bekämpft, dann die Amerikaner. Im Februar 2014 stand der Islamische Staat vor den Toren von Bagdad, niemand konnte die Hauptstadt verteidigen. Da sind sie in die Bresche gesprungen, sie haben ihr Leben für alle hier gegeben. Ohne die Märtyrer der Asaib Ahl al-Haq oder der Badr-Organisation gäbe es den Irak heute nicht mehr. Nun müssen wir an ihrer Stelle für ein stabiles Land kämpfen“, sagt jemand aus dem Kreis der trauernden Eltern.

Ein paar Hundert Meter weiter, im von den Sad­risten genutzten Teil des Friedhofs, herrscht eine ganz andere Stimmung. Die Besucher tragen dort Abzeichen und Fotos ihres Anführers. „Wir würden unser Leben für ihn geben. Er ist wichtiger als der Irak, wichtiger selbst als meine Eltern“, meint der 22-jährige Haider. Ein Mann in den Dreißigern ergänzt: „Früher haben uns die Amerikaner alles gestohlen. Heute zerfressen uns die Iraner von innen, auch wenn sie vorgeben, auf unserer Seite zu stehen.“

Die Lage ist gefährlich

Im heiligen Schrein des Imam Ali wollen Besucher, die aus dem ganzen Süden des Irak angereist sind, sich nicht gern zur politischen Lage äußern. Jabar Ahmoud, 43, ist als Pilger mit seiner Familie gekommen; das ist sehr kostspielig für den Vater von zehn Kindern aus Basra, der wie viele Bewohner dieser desolaten Stadt im Süden des Irak arbeitslos ist. In Basra, wo mehr als 70 Prozent des irakischen Erdöls gefördert werden, herrscht mehr Armut denn je, und die politischen Querelen des vergangenen Jahres haben die Lage nicht verbessert. So sind die Milizen der al-Haschd asch-Schabi praktisch die wichtigsten Arbeitgeber in der Region geworden. Neben einem Einkommen bieten sie auch soziale Anerkennung.

Im September 2022 haben bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den al-Haschd asch-Schabi und den Anhängern von al-Sadr in Basra zugenommen. „Anfang Oktober gab es Feuergefechte in zwei Vierteln, das hat uns sehr beunruhigt. So gefährlich die Lage ist, ich bin überzeugt, dass der Großajatollah as-Sistani und die Hohe Religiöse Führung uns retten und für Ordnung sorgen können“, erklärt Jabar.

Die Hohe Religiöse Führung (marǧaiyya), über die einflussreiche und charismatische Geistliche und Gelehrte gebieten, hat sehr wahrscheinlich dazu beigetragen, die Unruhen vom August 2022 zu beenden. Aber kann sie auf Dauer den Streit der verfeindeten schiitischen Strömungen im Zaum halten? 

Der schiitische Klerus hat nur noch wenig Autorität

Der schiitische Klerus im Irak nimmt bewusst eine neutrale Position der „Aufsicht“ ein und hält sich aus politischen Auseinandersetzungen heraus. So kann er sein Ansehen bewahren, schwächt aber seinen Einfluss, sagt der Politologe Robin Beaumont, ein Kenner des politischen Islam im Irak: „Seine Anweisungen werden nur befolgt, soweit sie die politischen Lager der Schia in Bagdad zusammenbringen. Wenn die marǧaiyya aber die Regeln des politischen Systems infrage stellt, beispielsweise mit Appellen, die Korruption zu bekämpfen und die ethnischen und konfessionellen Quotierungen zu beenden, bleibt sie unbeachtet.“ Er fügt hinzu: „Diese überparteiliche Position ermöglicht es dem Klerus, die Illusion aufrechtzuerhalten, eine einende Kraft zwischen den politischen Blöcken der Schiiten darzustellen. Aber nach meiner Beobachtung wird seit 2003 die religiöse Autorität mehr und mehr von der Politik umgangen.“

Dennoch rechnet der Politologe nicht damit, dass die Situation völlig eskaliert. „Al-Sistani übt allein mit seiner Präsenz einen mäßigenden Einfluss aus. Im Fall einer Konfrontation würde er öffentlich die Beteiligten an den Pranger stellen, und das möchte niemand.“

Muktada al-Sadr scheint angeschlagen. Es hat den Führer der irakischen Schiiten geschwächt, dass sein religiöser Mentor, Ajatollahs Kazem al-Haeri, vom Iran aus seinen Rückzug verkündet hat. Nicht nur hat al-Sadr damit die religiöse Rückendeckung verloren – al-Haeri hat auch seine Unterstützer aufgerufen, sich auf die Seite des höchsten iranischen Führers Ali Chamenei zu stellen. Für al-Sadr und seine Anhänger ist klar: Der Rückzug geschah auf Verlangen Teherans und zielte darauf, ihn ins Abseits zu drängen. Aber trotz seiner schwierigen Lage kann Muktada al-Sadr weiter erhebliche Unruhe stiften, da seine Basis für ihn zu allem bereit scheint. 

„Beide Lager sind Teil des Systems“

Junge Aktivisten der großen Protestwelle vom Oktober 2019, die sich in einem Literatencafé im Bagdader Stadtteil Kerrada treffen, sind ebenfalls desillusioniert. Sie wollten den Sturz des Regimes und das Ende des Systems von auf einzelne Konfessionen beschränkten Parteien, sind aber an der harten Unterdrückung gescheitert; die ging hauptsächlich auf das Konto der al-Haschd asch-Schabi, aber auch der Kräfte von al-Sadr. Am Ende waren 600 Tote und 30.000 Verletzte zu beklagen.

Die jungen Iraker, die vom algerischen „Hirak“ inspiriert sind, werden seit Monaten im Namen gemeinsamer Ziele wie dem Kampf gegen Korruption und ausländische Einmischung von Sadristen umworben. Aber davon lassen sich die Aktivisten nicht täuschen: „Beide Lager sind Teil des Systems“, stellt der 31-jährige Ali fest. „Der einzige Unterschied ist, dass Muktada al-Sadr eigenständig vorgeht und nicht von einer ausländischen Macht gesteuert wird. Trotzdem wollen wir mit ihm nicht gemeinsame Sache machen“, so der 25-jährige Safaa.

Der neue irakische Premierminister Mohammed Shia al-Sudani hat Ende November Teheran besucht und sich dort für mehr Zusammenarbeit mit dem Iran in allen Bereichen ausgesprochen. Als Hauptabnehmer iranischer Güter ist der Irak ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die islamische Republik, die unter harten Sanktionen des Westens leidet. Und die Ächtung des Iran wegen der brutalen Unterdrückung der Protestwelle hat die Abhängigkeit Teherans von Bagdad noch verstärkt. Keine guten Aussichten für den Irak.

Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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