Das Problem wurde jüngst bei der Wahl des Bundespräsidenten im Oktober deutlich: Jeder dritte Einwohner der Bundeshauptstadt konnte nicht an der Abstimmung teilnehmen. Die Wiener Stadtregierung hat das Problem erkannt. Doch dass das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft sei, könne Wien als Bundesland es nicht ändern, sagte Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) Anfang November. „Von daher fordern wir ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht. Es soll politische Teilhabe einfacher ermöglichen“, sagte Ludwig.
Die Stadt lässt alle paar Jahre einen Integrationsmonitor über die Lage von Einwohnern mit Migrationshintergrund erstellen. Die bislang letzte Ausgabe wurde vor zwei Jahren veröffentlicht. Demnach waren Anfang 2020 30,8 Prozent der Wienerinnen und Wiener ausländische Staatsbürger, 36,7 Prozent waren im Ausland geboren. Die meisten Zuwanderer kommen aus Staaten der Europäischen Union (EU) oder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA.
Laut Philipp Hammer, Projektleiter des Integrationsmonitors, hat Österreich eine der niedrigsten Einbürgerungsquoten in der EU. Ursache ist das restriktive Staatsbürgerschaftsgesetz: Wer österreichischer Staatsbürger werden will, muss mindestens zehn Jahre im Land gelebt haben, darf nicht straffällig geworden sein und muss einen erfolgreichen Sprach- und Staatsbürgerschaftstest sowie ein Einkommen von monatlich 882,78 Euro nachweisen können – und zwar nach Abzug von Mietkosten, Versicherungen und Unterhaltsleistungen. Für Ehepaare gilt ein monatliches Minimum von 1120 Euro, für jedes Kind sind nochmals 275 Euro nachzuweisen. Angesichts steigender Mietkosten und geringer Löhne in den typischen Zuwandererberufen ist das für viele eine unüberwindbare Hürde.
Camila López aus Ecuador arbeitet 30 Stunden in einem Weltladen und bringt netto 1300 Euro nach Hause. Ihr Mann Carlos jobbt in einer Latino-Bar und trägt durchschnittlich 1200 Euro zum Familieneinkommen bei. Tochter Carmen ist 14. Mit 2500 Euro kommen sie ganz gut durch. Nach Abzug von Mietkosten, Strom, Gas und Versicherungen bleiben aber weniger als die geforderten 1395 Euro übrig.
ÖVP und FPÖ wollen die strengen Regeln nicht aufweichen
Da wollen die Wiener Sozialdemokraten ansetzen. „Hürden durch Gebühren, Einkommensgrenzen und Aufenthaltsdauer“ sollen verändert werden, wenn es nach Bürgermeister Ludwig geht. Er findet es „sozial ungerecht“, dass gut Verdienende oder Investoren viel leichter zur Staatsbürgerschaft kämen als Personen in Niedriglohnbranchen. Was die Wartefrist auf die Staatsbürgerschaft betrifft, kann sich der Bürgermeister eine Verkürzung auf fünf Jahre vorstellen. In Österreich geborene Kinder sollen automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren legal im Land lebt.
Die Reaktionen aus der Politik waren ebenso heftig wie erwartbar. Für die ÖVP kommt es nicht in Frage, die strengen Regeln aufzuweichen. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker warf den Sozialdemokraten vor, sie strebten „Masseneinbürgerungen“ an.
Noch hysterischer reagierte der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp. Die „durchgeknallten Forderungen der SPÖ“ müssten gestoppt werden. „Während Asylantenbanden Straßenschlachten veranstalten, Frauen vergewaltigen und wir derzeit mit einer Flut von illegalen Sozialmigranten konfrontiert sind, fällt dem Bürgermeister nichts anderes ein, als diesen Personen auch noch die österreichische Staatsbürgerschaft zu schenken und sie wählen zu lassen“, so Nepp in einer Presseaussendung.
Moderate Kritiker sind der Meinung, die Stadt Wien könne ihre Ambitionen zunächst mit einer Reform der für Einbürgerungen zuständigen Magistratsabteilung 35 unter Beweis stellen. Die habe nicht nur einen enormen Rückstau an Anträgen abzuarbeiten, sondern schrecke durch kleinliche Ermessensentscheidungen ab. Selbst der Europäische Gerichtshof hat die MA 35 jüngst gerügt.
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