Timbuktu: Das klingt nach einem abgelegenen Ort, nach Wüstensand, Kamelen und Exotik aus 1001 Nacht. Tatsächlich ist Timbuktu eine Stadt mit rund 50.000 Einwohnern – und der Stolz vieler Menschen in Mali. Denn im 15. und 16. Jahrhundert war Timbuktu, das am südlichen Rand der Sahara und an wichtigen Handelsrouten liegt, ein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit. Theologen und Naturwissenschaftler, Mediziner und Astronomen, Literaten und Philosophen trafen sich dort, um sich auszutauschen und ihr Wissen zu erweitern. Timbuktu entwickelte sich dadurch zu einer Art mittelalterlicher Universität. Mehr als 25.000 Gelehrte lebten zeitweise dort und schrieben ihre Erkenntnisse teils auf Papier, teils auf Ziegen- oder Kamelhaut und auf Knochenplatten nieder.
Die Timbuktu-Manuskripte zeugen von dem reichen Wissen der arabisch-afrikanischen Elite zu dieser Zeit – und seit Mitte März kann jeder daran teilhaben. Sieben Jahre lang haben malische und internationale Wissenschaftlerinnen und Restauratoren Teile der Manuskripte in mühsamer Handarbeit sortiert und digitalisiert; Google Arts & Cultures hat nun 40.000 Seiten veröffentlicht. Die ältesten stammen aus dem 12. Jahrhundert.
Tipps zur guten Regierungsführung aus früheren Jahrhunderten
„Viele Menschen wissen gar nicht, dass die malische Zivilisation zur Zeit der Entstehung der Manuskripte durchaus mit der Blütezeit von Florenz vergleichbar war“, sagt Cynthia Schneider, Diplomatin aus den USA und Co-Direktorin des Projekts Timbuktu Renaissance, das die Musik- und Kulturszene Malis fördert. Die Professorin ist überzeugt, dass die Publikation und ihre Verfügbarkeit in Arabisch, Englisch, Französisch und Spanisch „einen tiefgreifenden Einfluss auf die malische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft haben wird“. Es sei leicht, in Klischees zu verfallen und bei Mali nur an politische Unsicherheit, an Krieg und Terror zu denken. „Dass Teile der Manuskripte jetzt öffentlich zugänglich sind, führt dazu, dass der Reichtum und die Diversität malischer Kultur und Geschichte für alle sichtbar werden.“
Die Gelehrten haben keineswegs nur über den Koran geschrieben, sondern auch über Astronomie, Philosophie, Naturwissenschaften, Frauenrechte oder Konfliktlösung. „Anhand der Manuskripte werden zwei große Vorurteile widerlegt: erstens, dass Afrika keine geschriebene Geschichte hat, und zweitens, dass der Islam weniger zivilisiert sei als ‚der Westen‘. Die Timbuktu-Handschriften zeigen, welch brillante islamische Wissenschaftler es damals schon gab.“ Schneider schwärmt davon, wie detailliert die Verfasser der Manuskripte ihre Gedanken zu guter Regierungsführung darlegten. „Sie schrieben, dass der Herrscher eines Landes alles der Bevölkerung dieses Landes schuldet, dass er keine Geschenke annehmen, dass er Kritikern zuhören und die Kritik akzeptieren sollte und dass er immer so handeln sollte, dass das Volk davon profitiert und nicht er selbst.“
Dass die Inhalte der Timbuktu-Manuskripte in der westlichen Welt kaum auf öffentliches Interesse stoßen, bedauert sie. „Aber es widerspricht wohl dem gängigen Bild, das in unseren Medien von Mali und dem gesamten Kontinent gern gezeichnet wird.“
Geheime Rettungsaktion auf Eseln und Booten
Vor neun Jahren hätten islamistische Rebellen den Kulturschatz fast vernichtet. Aber die Bewohner von Timbuktu verhinderten das. Heimlich brachten sie rund 285.000 Manuskripte – also fast den gesamten Bestand – in die Hauptstadt Bamako, etwa tausend Kilometer weiter südlich. Der führende Kopf dieser Aktion war der Bibliothekar Abdel Kader Haidara. Er und sein Team haben zwischen August 2012 und Januar 2013 Manuskripte aus Timbuktu herausgeschmuggelt – auf Booten, Eseln und Lastenkarren. Heute leitet Haidara die malische Organisation Savama-DCI, die sich für den Schutz der Texte einsetzt und die alten Schriften restauriert.
Mit ihm zusammengearbeitet hat Dmitry Bondarev, Leiter der Forschungsprojekte Westafrika am Zentrum für Manuskript-Kulturen der Universität Hamburg. Zwischen 2013 und 2018 hat Bondarev seinen Teil dazu beigetragen, die Manuskripte zu erhalten, zu säubern und zu sortieren – eine Sisyphus-Aufgabe, erzählt er. Allein die große Anzahl in die richtige Reihenfolge zu bringen, sei äußerst zeitaufwändig gewesen, „denn die Mehrzahl der Manuskripte in Westafrika ist nicht nummeriert“. Manches sei kaum noch lesbar gewesen, etwa, weil es durchlöchert war, dennoch habe das Team von Savama rund 85 Prozent davon aufbereiten und digitalisieren können. Unterstützt wurde das Projekt vom Auswärtigen Amt, der Gerda-Henkel-Stiftung und dem Hill-Museum in den USA.
Sorge vor terroristischen Anschlägen oder Unfällen
Bondarev bereitet allerdings die Frage nach dem Aufbewahrungsort Kopfzerbrechen. In der Hauptstadt Bamako ist das Klima feuchter als in Timbuktu und könnte den uralten Schriften deshalb schaden. Noch gefährlicher aber schätzt er das Risiko eines terroristischen Anschlags oder eines Unfalls ein. „Dieses Erbe an einem einzigen Ort aufzubewahren, ist sehr unsicher.“ Während der Projektlaufzeit seien die Manuskripte deshalb an unterschiedlichen Orten gelagert worden. Doch da die Finanzierung für die Lagerräume nun ausgelaufen sei, habe die malische Regierung nach Hilfsanfragen von Savama Platz in der in der nationalen Bibliothek geschaffen.
Autorin
Elisa Rheinheimer
Elisa Rheinheimer betreut als freie Mitarbeiterin den Webauftritt von "welt-sichten". Ihre Themenschwerpunkte sind Nordafrika, arabische Welt und EU-Politik.Timbuktu war nicht das einzige Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in Westafrika
Mali war nicht der einzige Staat in Afrika, in dem Wissen schriftlich festgehalten wurde. Aus der gesamten Sahelregion sind Manuskripte überliefert. „Auch Mauretanien hatte ein intellektuelles Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, ähnlich bedeutsam wie Timbuktu. Und auch im Tschad und im Niger waren Manuskripte verbreitet. Das ist bloß alles kaum bekannt.“ Mali ist hingegen einzigartig in dem Bemühen, die Manuskripte systematisch zu erfassen – kein anderes Land der Region sei damit so erfolgreich.
Ähnlich wie Cynthia Schneider bedauert auch Bondarev, dass im Westen die Überlieferung dieses jahrhundertealten Wissens aus dem Sahel in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt ist, geschweige denn die nötige Wertschätzung erfährt. In Mali selbst sei das anders, sagen beide Experten übereinstimmend. „Viele Menschen dort sind sich der Bedeutung dieses schriftlichen Erbes bewusst“, meint Bondarev. Damit es noch mehr werden, arbeitet die malische Organisation Savama-DCI mit Schulen und Universitäten zusammen und reist durchs ganze Land, um die Menschen mit den Inhalten der Manuskripte vertraut zu machen, mit ihnen darüber zu diskutieren und Lehren für heute daraus zu ziehen.
Haben die Manuskripte das Potenzial, Mali zu verändern?
„Die Manuskripte haben auf jeden Fall einen positiven Einfluss auf Mali“, ist Bondarev überzeugt. „Wenn die Menschen lesen, was ihre Vorfahren zu guter Regierungsführung schrieben und das mit der heutigen Situation vergleichen, kann das Denkprozesse anregen. Auch Themen wie religiöse Ko-Existenz, Frieden oder Gesundheit und Medizin sind ja nach wie vor wichtig. Die Menschen betrachten die Manuskripte deshalb als wertvolles Wissen und als ihr nationales Erbe.“
Cynthia Schneider hofft, dass die Veröffentlichung der Manuskripte die Welt eins lehrt: „Schaut auf die Menschen und die Kultur eines Landes, wenn es darum geht, Frieden zu schaffen - und nicht nur auf die geostrategische und politische Situation.“ Sie fordert deshalb, dass auch in der internationalen Diplomatie „Kultur stärker in den Fokus gerückt wird und ihr Potenzial für Frieden und Konfliktlösung erkannt wird.“
Wer weiß, was möglich ist, wenn das gelingt. Dann könnte Mali eines Tages zu einem gefragten Touristenziel aufsteigen, ähnlich wie Ägypten, in das Menschen aus aller Welt reisen, um voll Staunen die Kulturschätze aus einer lange zurückliegenden Epoche zu bewundern.
Zum Weiterlesen: „The Bad-Ass Librarians of Timbuktu and Their Race to Save the World's Most Precious Manuscripts“, von Joshua Hammer, Verlag Simon & Schuster, 2016.
Einen Kurzfilm zur Geschichte der Manuskripte in englischer Sprache sehen Sie hier.
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