Trotz großer Nachteile sind viele Entwicklungsländer an Atomenergie interessiert
Gespräch mit Michael Sailer
Kernkraft gilt als klimaneutral und findet deshalb wieder zunehmend Befürworter. Für die Energieerzeugung in Entwicklungsländern ist sie allerdings kaum geeignet: Die Kosten und die Sicherheitsrisiken sind zu hoch. Erneuerbare Energien könnten helfen, eine dezentrale Versorgung aufzubauen und die nationale Wirtschaft anzukurbeln.
Welche Rolle spielt Kernenergie bei der Stromerzeugung weltweit?
Der weltweite Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung liegt bei etwa 15 Prozent, Kohle bei etwa 40 Prozent, die erneuerbaren Energien bei 18 Prozent. Genutzt wird die Kernenergie vor allem in den Industrieländern und in den früheren Ostblockstaaten. Von den so genannten Schwellenländern haben Südafrika, China, Taiwan, Indien, Pakistan, Argentinien, Brasilien und Mexiko in den vergangenen Jahren Kernkraftwerke gebaut. Die klassischen Entwicklungsländer sind bislang nicht darunter.
Warum nicht?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen darf ein Stromnetz nicht zur Hälfte oder zu einem Drittel von einem einzigen Kraftwerk abhängen. Ein Ausfall hätte zur Folge, dass das Netz zusammenbricht. Kernkraftwerke haben eine sehr hohe Leistung pro Block, das fängt bei 200 Megawatt an und kann bis zu 1600 Megawatt gehen. In einer ganzen Reihe von Ländern sind die Stromnetze nicht geeignet, um Kernkraftwerke zu integrieren.
Zum anderen waren Lieferanten für Kernkraftwerke in der Vergangenheit vor allem die USA, Deutschland, Frankreich, Kanada. Diese Länder haben relativ restriktive Bestimmungen für solche Geschäfte. Ein dritter Grund ist das Geld: Immerhin müssen Baukosten in Höhe von früher bis zu zwei Milliarden Euro, heute mehr als drei Milliarden Euro bezahlt werden.
Gibt es denn kein großes Interesse in den Industrieländern, Technologie für Kernkraftwerke zu exportieren?
Es gab schon immer einen Streit zwischen Unternehmen und politischen Interessen der westlichen Regierungen. In der Regel hat man nur Lieferungen in Länder beschlossen, bei denen man sich sicher ist, dass sie keine militärischen Absichten damit verfolgen. Nach der ersten Nuklear-Explosion in Indien haben sich 1975 mehrere Länder im so genannten „London Suppliers Club“ zusammengeschlossen. Um die Verbreitung von Atomwaffen zu verringern, haben sie eine Reihe von Richtlinien beschlossen, die den Export von Nukleartechnologie stark einschränken. Indien und Pakistan sind danach zunächst überhaupt nicht mehr unterstützt worden. Indien verfügt trotzdem über 17 Kernkraftwerke mit kleinerer Leistung, die mit Ausnahme der drei ältesten im Eigenbau errichtet worden sind.
Wie groß ist die Gefahr, dass ein Land, das Kernkraft friedlich nutzt, atomar aufrüstet?
Wenn ein Land Kernkraftwerke betreibt, hat es aus zwei Gründen gute Möglichkeiten, auch eine Atombombe zu bauen. Zum einen verfügt es über das Grundmaterial Plutonium in den abgebrannten Brennelementen, zum anderen über das nötige Wissen in der Kernphysik. Diese Kenntnisse können zivil und militärisch angewendet werden. Es hängt von der Regierung ab, wie sie sich in einem regionalen Kräfte- und Konfliktfeld positionieren will. Wenn man von einem Nachbarn befürchtet, dass er Atomwaffen hat, führt das eher dazu, dass man selbst welche baut.
Ein anderer Aspekt wird am Beispiel von Nordkorea deutlich. Durch seine Drohung, Atomwaffen zu bauen, hat es sich sehr erfolgreich Zugeständnisse von anderen Ländern erpresst. Das lehrt jedes Land in der südlichen Hemisphäre: Wenn man über Atomkraft oder Atomwaffen diskutiert, hat man eine bessere Machtposition.
Könnte das Streben nach atomarer Aufrüstung für manche Länder das Motiv sein, sich zivile Atomtechnik zu beschaffen?
Derzeit haben bis zu 20 Länder im Süden Interesse an Kernenergie. Dazu zählen nordafrikanische Staaten ebenso wie Indonesien, Thailand und Länder in Südamerika. Sie haben sicher Bedarf an Strom, aber wenn man sich ihre Entwicklung in den vergangenen 50 Jahren und ihre derzeitigen Regierungen anschaut, kann man sich vorstellen, dass sie durchaus auch Interesse an Atomwaffen hätten.
Mehr an den Waffen oder am Strom?
An beidem. Für die Nutzung der Nukleartechnik sind die politischen Verhältnisse ausschlaggebend. Brasilien zum Beispiel hatte Zeiten, in denen es nur um die friedliche Nutzung ging. Es gab aber auch Zeiten, in denen es parallel ein atomwaffenfähiges Programm durchgeführt hat. Im Iran wurde vor der Revolution 1979 mit dem Bau von zwei Kernkraftwerken begonnen. Danach standen die gleichen Ressourcen einer völlig anderen Regierung zur Verfügung. Die Diskussion um die Urananreicherung und ihre militärische Nutzung hängt direkt zusammen mit den damals nicht fertig gebauten beiden Kraftwerken. Die Iraner möchten sie fertig stellen. Angesichts ihres Potenzials für die wirtschaftliche Entwicklung kann man ihnen das nicht verwehren. Aber man geht weltweit davon aus, dass damit auch militärische Ambitionen verbunden sind. Die Grenze zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Kernenergie ist aus technischen und personellen Gründen extrem durchlässig. Das gilt sowohl für Entwicklungsländer als auch für die Industrieländer, wenn man sich beispielsweise Frankreich oder Großbritannien anschaut. Eine strikte Trennung wie in Deutschland, Spanien, Belgien und Japan ist eher die Ausnahme.
Wollen Indien und China, deren Wirtschaft stark wächst, die Kernenergie zur Stromerzeugung ausbauen?
Ja. Die indische und die chinesische Energiepolitik gehen davon aus, dass sie angesichts ihres großen industriellen Wachstums große Mengen Strom brauchen. Sie verfügen auch über ein relativ gut funktionierendes Stromverteilungsnetz. Alle Energiequellen werden dort parallel entwickelt, von Windrädern bis zu Kernkraftwerken. Der Prozentsatz des Atomstroms wird sich nicht wesentlich verändern, aber weil die Stromerzeugung insgesamt steigen wird, wird der absolute Betrag steigen. Atomkraft ist aber nicht das zentrale Versorgungsinstrument. Die Strategie lautet: Lasst uns alle Ressourcen nutzen, weil wir alle brauchen. Der Energiehunger ist so groß.
Wie lange reichen denn die Uranvorräte?
Nach offiziellen Schätzungen hat man weltweit noch maximal für 50 Jahre Uran. Es ist allerdings regional sehr unterschiedlich verteilt. Australien, Kanada und die USA haben sehr große Vorräte. Unter den Entwicklungsländern bauen vor allem Namibia und Niger viel Uran ab. Sie gehören zu den weltgrößten Produzenten, der Export macht einen erheblichen Teil ihrer Wirtschaftskraft aus. Mit dem so genannten Schnellen Brüter kann man den Zeitpunkt, an dem sich die Uranvorkommen erschöpfen, hinauszögern. Man kann damit deutlich mehr aus dem weltweiten Kernbrennstoffvorrat herausholen, weil in diesen Reaktoren neben der Kernspaltung auch ein Brutprozess stattfindet, bei dem mehr neuer Spaltstoff erzeugt wird als gleichzeitig im Reaktor verbraucht wird. Die wenigen Anlagen funktionieren aber nicht gut, insbesondere die im Brüter notwendige Kühltechnologie auf Basis von flüssigem Natrium bereitet große Probleme. Die Reaktoren sind viel komplizierter als die normalen Leichtwasser-Reaktoren. Sie sind ein technischer Irrweg, der aber trotzdem immer wieder diskutiert wird. Zum Beispiel in Indien.
Kernenergie gilt als „klimaneutral“ und wird angesichts der Erderwärmung als mögliche Stromquelle der Zukunft gehandelt. Wie ist die Kohlendioxid-Bilanz von Kernkraftwerken?
Kernenergie ist nicht CO2-frei. Vor allem die Gewinnung und Anreicherung des Brennstoffes Uran verbraucht Strom, der meistens aus Kohlekraftwerken stammt. Auch die Lieferung des Baumaterials und der Bau selbst brauchen Energie. Die Emissionen, die der Atomstrom verursacht, sind aber deutlich geringer als im Fall von Kohlestrom. Die Werte sind eher vergleichbar mit den Emissionen von Windkraft oder Photovoltaik. Dort verbraucht man auch Energie für die Baustoffe. Kernenergie würde also zur CO2-Reduzierung beitragen. In Entwicklungsländern sollte man jedoch eher auf erneuerbare Energien setzen.
Warum ist das günstiger?
Sie sind dezentraler einzusetzen und nicht auf gut funktionierende Stromnetze angewiesen. Außerdem können Windkraft- und Solaranlagen eher von einheimischen Firmen hergestellt werden, weil die Technik weniger kompliziert ist. Bei einem Kernkraftwerk muss man mit Ausnahme von Zement alles importieren. Es gibt also keine zusätzliche Beschäftigung für die einheimische Bevölkerung, die für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig wäre. Zudem müssen ausländische Kapitalgeber oder Mittler bedient werden, weil man so gut wie nichts im eigenen Finanzraum abwickeln kann.
Um Kernkraftwerke technisch sicher betreiben zu können, sind außerdem eine hohe technische Kultur und stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse nötig. Armenien war beispielsweise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in der Lage, seine beiden Kernkraftwerke zu betreiben. Aber auch für die Sicherheit eines abgeschalteten Kernkraftwerkes braucht man Mitarbeiter mit dem nötigen technischen Wissen, einen guten Stromanschluss und eine Firma, die ständig präsent ist und die notwendigen Unterhaltsarbeiten durchführt.
Die Entscheidung für ein Kernkraftwerk bedeutet, dass man mindestens zehn Jahre Bauzeit, etwa 40 Jahre Laufzeit und mindestens zehn Jahre für den Abbau im Blick haben muss. Die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und die technischen Kenntnisse müssen während des gesamten Zeitraums gegeben sein. Wenn man diese Kriterien anlegt, muss man viele Länder als Standorte für Atomkraftwerke ausschließen. Darüber hinaus sind bei Kohlekraftwerken und vor allem bei Windrädern oder Biomassekraftwerken die Bauzeiten viel kürzer, sie liefern viel schneller Strom. Außerdem spielt ein Kernkraftwerk erst nach 20 Jahren sein Geld wieder ein. Da stellt sich die Frage, ob man Kapital so lange binden muss.
Das Problem mit der Entsorgung ist ja auch noch immer nicht gelöst.
Die Entsorgung ist lösbar, aber nur in einem großen Staat, der ausreichend stabil ist. Wenn ein Zwischenlager für Brennelemente nicht gewartet wird und die Radioaktivität nach 25 Jahren anfängt, nach außen zu dringen, ist das natürlich ein enormes Problem. Der Staat muss das mit genug Geld im Griff behalten. Die Industrieländer wären dazu in der Lage. Finnland oder Schweden werden in zehn oder fünfzehn Jahren sicher ein betriebsfähiges Endlager haben, vielleicht auch Frankreich. Aber wo beispielsweise die abgebrannten Brennstoffe in Armenien lagern, ist eine interessante Frage. Auch Brasilien, Argentinien und Mexiko haben keine Lösungsstrategie für das Entsorgungsproblem.
Warum interessieren sich Entwicklungsländer trotz aller Nachteile für die Kernenergie?
Viele Entwicklungs- und Industrieländer halten Kernkraftwerke für moderne Ingenieurskunst. Die war schon immer prestigeträchtig. Es verleiht eben Prestige, wenn man ein Atomkraftwerk in Betrieb hat. Die Staatsführung und die technische Elite haben mit einem Kernkraftwerk ein Vorzeigeobjekt, auf das sie stolz sein können und das ihre Reputation erhöht. Manche Länder wie Mexiko oder Argentinien haben deshalb wahrscheinlich viel Geld draufgezahlt. Sie wollten zeigen, dass sie in technologischer Hinsicht auf dem amerikanischen Kontinent auch eine wichtige Macht sind. Hinzu kommt die Möglichkeit, mit der militärischen Nutzung zu spielen. Tatsächlich sind aber Kernkraftwerke Showprojekte, die viel Geld verschlingen und der Bevölkerung eines Entwicklungslandes wenig helfen.
Das Gespräch führte Gesine Wolfinger.
Michael Sailer ist stellvertretender Geschäftsführer des Öko-Institutes in Darmstadt und Mitglied der Reaktorsicherheitskommission der Bundesregierung.
welt-sichten 5-2008