Bis heute gibt es in den agropastoralen Gesellschaften im Omo-Tal nur wenige, die die Schule oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Die Schulen in ländlichen Gebieten im Hamar-Distrikt, in denen die Hamar sowie andere ethnische Gruppen leben, gehen meistens nicht weiter als bis zur 5. oder 6. Klasse, für weiterführende Schulen muss man in die nächste Stadt. In einigen Städten gibt es auch Internate. Anfang der 2000er Jahre wuchs auf internationaler entwicklungspolitischer Ebene der Druck, etwa über die UN-Millenniumsziele, möglichst allen Kindern einen Grundschulbesuch zu ermöglichen. Die äthiopische Regierung verstärkte daraufhin ihre Bemühungen, die Schulpflicht durchzusetzen, und baute mit internationaler Hilfe in ländlichen Gebieten neue Schulen. Als ich im Jahr 2012 mit meinen Forschungen in Süd-Omo begonnen habe, war das die Endphase der Millenniumsziele, die ja bis 2015 erreicht werden sollten.
Als Sie dort waren, kam es im Hamar-Distrikt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Schulpflicht. Was ist passiert?
Regierungsmitarbeiter, die selbst aus agropastoralen Familien stammten und zur ersten Generation mit abgeschlossener Schulbildung gehörten, wurden in Mobilisierungskampagnen in Gehöfte geschickt, um für den Schulbesuch zu werben. Vor allem auch die Mädchen sollten zur Schule geschickt werden. Zu der Zeit besuchten rund ein Drittel der schulpflichtigen Kinder im Hamar-Distrikt eine Schule. Die Forderung, alle Kinder zur Schule zu schicken, stieß auf Ablehnung. Die Konflikte schaukelten sich hoch, es kam zu Kämpfen, bei denen Staatsbedienstete und Angehörige der Hamar starben. Viele Hamar warfen den Staatsbediensteten vor, nicht in ihrem Sinne zu handeln. Sie fragten, wer sich denn um die Ziegen und Rinder kümmern sollte, wenn alle Kinder in die Schule gingen. Auch Schüler wurden bedroht und verprügelt. Mit anderen Worten: Die internationale Kampagne für Schulbildung und die Umsetzung durch die äthiopische Regierung wurde von vielen Hamar als Bedrohung ihrer Existenz wahrgenommen.
Wie hat die Regierung darauf reagiert?
Sie hat Polizei und das Militär geschickt. Die Schulen wurden für einige Monate geschlossen, Vertreter der Regierung aus den ländlichen Gebieten abgezogen. Eine Zeit lang konnte ich gar nicht mehr in den Schulen forschen.
Wie haben die Auseinandersetzungen Ihre Forschung inhaltlich beeinflusst?
Im Grunde haben sie meine These bestätigt, dass das global geförderte Gut Schule hinterfragt werden muss. Die Konflikte in Hamar haben gezeigt, wie brisant eine Schulpflicht sein kann und dass man genau hinschauen muss, was durch Schulbildung passiert. Der Entwicklungsbegriff wird ja schon seit langem als eurozentristisch hinterfragt. In Bezug auf Schule hat eine solche kritische Auseinandersetzung bisher nicht stattgefunden. Es wird immer von Bildung gesprochen, meistens wird damit aber Schule gemeint. Ich plädiere dafür, Bildung viel breiter zu verstehen. Es gibt auch Bildung außerhalb der Schule, die sehr wichtig ist, um durchs Leben zu kommen. Für Viehhirten etwa sind der Umgang mit Tieren und die körperliche Ausdauer wichtig sowie die Kenntnis guter Weideplätze und anderes Umweltwissen. Das kann man nicht in der Schule lernen, sondern nur durchs Mitmachen. Deshalb ist es mir wichtig, nicht wertend zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu unterscheiden. Es gibt viele Arten von Wissen, und wir denken in der Regel immer nur an Schulwissen.
Wie sind die Kinder und Jugendlichen mit den Konflikten umgegangen?
Die Schülerinnen und Schüler befinden sich in mehreren Dilemmata; sie bewegen sich gewissermaßen zwischen verschiedenen Welten. In der Schule sollen Kinder zu Bürgerinnen und Bürgern des Staates erzogen werden. Das drückt sich schon in der Kleidung aus: Hamar-Kinder, die nicht zur Schule gehen, kleiden sich so, dass sie sich von Kindern anderer ethnischer Gruppen unterscheiden. Die Schule verlangt dagegen, dass Schulkinder vor allem in den Städten einheitlich aussehen. Es wird ständig ausgehandelt, ob die Kinder noch Hamar sind, wenn sie zur Schule gehen, und was es überhaupt bedeutet, Hamar zu sein.
Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler darauf?
Manche verlassen die Schule wieder und beschließen, dass das nichts für sie ist und sie lieber Vieh hüten wollen. Andere hingegen lassen die Herden zurück und gehen gegen den Willen ihrer Eltern ins Internat. Sie erhoffen sich ein anderes Leben in der Stadt und mehr Freiheit von elterlicher Kontrolle, vielleicht sogar ein Studium im Ausland. Das sorgt für große Konflikte in den Familien, vor allem, wenn es um Mädchen geht, die zum Beispiel vor einer arrangierten Heirat davonlaufen und in fortgeschrittenem Alter beginnen, zur Schule zu gehen. Die Entscheidungen für oder gegen den Schulbesuch sind vielschichtig. Junge Leute, die mal viel Vieh erben werden, bleiben eher zu Hause, weil sie dort besser versorgt sind als in der Stadt. Für diejenigen aus Familien, die wenig Vieh haben, sowie für Kinder von Witwen oder jüngere Geschwister, die mit keinem großen Erbe rechnen können, ist es interessanter, zur Schule zu gehen.
Abgesehen von praktischen Fragen wie der nach fehlender Hilfe im Haushalt oder auf der Weide: Warum reagieren viele aufseiten der Hamar so ablehnend auf die Einschulung ihrer Kinder?
Das hat stark mit der Geschichte Äthiopiens und den Differenzen zwischen dem Hochland im Norden und dem Tiefland im Süden zu tun. Die Herrscher aus dem Hochland haben die Menschen im Tiefland lange Zeit kolonisiert und versklavt; bis heute betrachtet das Zentrum das Tiefland als unzivilisierte Peripherie des Staates. Die Leute im Süden haben Angst, von der Regierung bevormundet zu werden, und im Konflikt um die Schule kommt das zum Ausdruck: Sie fürchten, die Kinder gehörten dann mehr dem Staat als den Eltern, und bangen um ihre Zukunft. In Äthiopien ist die Schulsituation für Agropastoralisten viel schwieriger als etwa in der Mongolei, wo die nomadische Lebensweise in den Staat integriert und das Schulsystem entsprechend angepasst ist. In Äthiopien hingegen wird das Schuljahr vom Hochland vorgegeben und richtet sich nach den Regenzeiten im Norden des Landes, egal welche Erntezeiten und landwirtschaftlichen Zyklen in anderen Landesteilen herrschen.
Geht es auch um einen Konflikt zwischen Jung und Alt?
Ja, es hat auch mit den Generationen zu tun. Aber schwierig ist vor allem, wenn junge Hamar-Männer mit Schulbildung als Bürgermeister oder Distriktvorsteher für die Regierung arbeiten, zu den Alten kommen und ihnen auf herablassende Weise sagen, was sie zu tun haben. Da sagen die Alten: „Du bist unser Kind. Wie kann es sein, dass du uns jetzt Befehle gibst?“ Da vermischen sich Konflikte zwischen Alt und Jung mit solchen um politische Macht.
Versucht die Regierung, auf die Bedürfnisse und Bedenken der Hamar einzugehen?
Ja, es gibt mittlerweile einige sogenannte Alternative Basic Education Centers für die ersten drei Schuljahre, in denen angepasste Regeln gelten. So können die Lehrerinnen und Lehrer dort mit den Eltern die Schulzeiten vereinbaren. Es gibt erste Schulbücher, in denen Orte und Personen Namen der Hamar tragen. Es tut sich also etwas, allerdings haben mir Mitarbeiter des Bildungsministeriums gesagt, dass das schwierig sei: Wenn Schulbücher mit Hamar-Namen eingeführt werden, beschwert sich die Nachbargruppe der Nyangatom, sie wolle auch Schulbücher in ihrer Sprache haben. Im Grunde müsste man also Schulmaterial in allen lokalen Sprachen vorlegen, und das sind allein in der südlichen Region SNNPR mehr als fünfzig.
Was schlagen Sie vor, um das Problem zu entschärfen?
Diejenigen, um die es geht, müssen stärker in die internationalen Debatten und Entscheidungen über Schule und Bildung einbezogen werden. In den Vereinten Nationen werden Ziele beschlossen, aber es wird zu wenig darüber gesprochen, was dann in den Klassenzimmern vor Ort geschieht. Gesellschaftliche Gruppen wie die Hamar sowie generell Kinder und Jugendliche müssen mehr gefragt werden, wie Schule für sie aussehen sollte und was sie erwarten. Oft heißt es pauschal, Pastoralisten wehrten sich gegen Schulbildung. Aber das stimmt nicht. Viele haben mir gesagt, sie wollten ihre Kinder zur Schule schicken, damit sie dort etwas lernen, was die Eltern ihnen nicht beibringen können. Entscheidend ist, dass das mit Wissen verbunden wird, das vor Ort sinnvoll ist.
Wie könnte das in der Praxis aussehen?
Ein Beispiel: Ich habe in einer Unterrichtsstunde gesessen, in der es um den Ersten Weltkrieg in Europa ging. Das hatte keinerlei Bedeutung für die Kinder. Ich habe mit Regierungsmitarbeitern aus Hamar darüber debattiert, ob es denn eigentlich immer ein festes Schulgebäude mit Bänken und Tafel sein muss oder ob man da nicht flexibler sein kann. Mein Vorschlag war, Unterricht per Radio einzuführen, um die Kinder langsam auf einen Schulbesuch vorzubereiten. Solche Radioprogramme könnten die Jungs auf der Weide hören oder die Mädchen beim Kochen oder während sie das Getreide mahlen. Das könnte ihnen den Schuleinstieg erleichtern, wenn sie dann schon etwas Amharisch sprechen. Da kam der Einwand, das sei keine echte Schule. Das hat nicht zuletzt mit der historischen Erfahrung zu tun, dass der Zugang zu Schulen mit der Aussicht auf Aufstiegsmöglichkeiten und gute Posten wenigen Auserwählten vorbehalten war. Alternative Konzepte stoßen deshalb auf Vorbehalte, man wolle Leuten den Zugang zu guten Schulen verwehren. Jedoch löst die aktuelle Schulpraxis das Versprechen auf ein besseres Leben in den meisten Fällen nicht ein. In vielen Ländern beobachten wir heute, dass eine hohe Zahl an Schulabsolventinnen und -absolventen keine Arbeit findet.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
Sabrina Maurus wurde für ihre Dissertation über die Durchsetzung der Schulpflicht im Hamar-Distrikt in Äthiopien mit dem zweiten Nachwuchsförderpreis für Entwicklungsforschung der KfW Entwicklungsbank und des Vereins für Socialpolitik sowie mit dem ersten Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Kultur- und Sozialanthropologie ausgezeichnet.
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