Nicolás Maduro wird von den meisten wichtigen westlichen Staaten nicht als Präsident Venezuelas anerkannt. Unter seiner Regierung ist die Wirtschaft zusammengebrochen und das Bruttosozialprodukt um mehr als 70 Prozent geschrumpft. Eine politische Krise hat über Jahre Massenproteste gebracht, fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger sind aus dem Land geflohen. Maduros Zustimmungsrate liegt heute nur knapp über zehn Prozent. Auf den ersten Blick ist verblüffend, dass er trotzdem das Land fest im Griff hat.
Übergänge zur Demokratie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts haben die allgemeine Überzeugung genährt, Diktaturen seien von Natur aus instabil und machten zwangsläufig Demokratien Platz. Diese Annahme ist aber irreführend. Studien über nichtdemokratische Regierungen gehen seit 50 Jahren sogar von der Prämisse aus, dass diese tendenziell recht stabil sind. Dass dort das Kommando in einer Hand liegt, löst viele Koordinationsprobleme. Und Diktatoren sind darauf spezialisiert, das Aufkommen von Opposition zu verhindern oder, wenn sie doch entsteht, ihre Spaltung zu betreiben. Kann sich so ein unpopulärer, wenig charismatischer Führer wie Maduro an der Macht halten?
Maduro gab dem Militär immer mehr Raum und Macht
Maduros Vorgänger Hugo Chávez hatte eine Regierung nach seinem Image als linksgerichteter Militärpopulist geschaffen und mit seinem Charisma und mit der Verfügung über hohe Staatsmittel für deren Zusammenhalt gesorgt. Nach seinem Tod im Jahr 2013 übernahm Nicolás Maduro, der klar als Linker galt. Er erbte eine strukturell verzerrte Wirtschaft, besaß nur wenig Charisma und nicht den militärischen Hintergrund wie Chávez.
Dennoch konnte er seine Koalition zusammenhalten, indem er dem Militär und der Einheit seiner Regierung Vorrang gab. Von Anfang an gab Maduro dem Militär immer mehr Raum in der Regierung und immer mehr wirtschaftliche Möglichkeiten. Er beteiligte die Armee verstärkt an Polizeiaufgaben und gab ihr die Kontrolle über Minen, Häfen und Grenzen, das heißt auch: die Nahrungsmitteleinfuhr. Das alles bietet reichlich Gelegenheiten für Bestechung und für den Aufbau von Firmen, die an lukrativen Regierungsaufträgen verdienen. Diese Vorteile sowie die Gefahr, im Fall eines Regimewechsels wegen Korruption zur Rechenschaft gezogen zu werden, geben den Militärs gute Gründe, eine unpopuläre Regierung zu unterstützen. Zudem sind viele Offiziere wegen Korruption oder Menschenrechtsverletzungen von den USA oder der EU sanktioniert, einige in den USA sogar angeklagt. Hohen Offizieren drohen also beträchtliche Ausstiegskosten, sollten sie ihre Loyalität auf die Opposition verlagern.
Dabei darf man nicht denken, ein korruptes Militär, das für eine Paria-Regierung arbeitet, besäße keine Ethik und kein Sendungsbewusstsein. Die venezolanische Armee ist, wie Armeen überall, von einer Ideologie durchdrungen: dem Nationalismus. Drohungen mit einer „militärischen Option“ aus Washington, aber auch Ereignisse wie der Versuch eines zusammengewürfelten Trupps aus Exilvenezolanern und Söldnern, im Mai 2020 von See aus in Venezuela einzudringen, rufen bei Militärs nationalistische Gefühle wach und stärken ihre Unterstützung für Maduro.
Bewaffnete halbstaatliche Kräfte
Um Regierungsgegner zu unterdrücken und einzuschüchtern, setzt der Präsident zunehmend auch auf paramilitärische Sicherheitskräfte. Im Volksmund heißen sie jetzt „colectivos“ nach sozialen Organisationen, von denen viele auf die Zeit vor Hugo Chávez zurückgehen und die nicht alle bewaffnet sind. Viele, vielleicht die meisten der bewaffneten halbstaatlichen Kräfte sind nicht Mitglieder von colectivos, sondern frühere Polizisten, Soldaten, Bodyguards und andere regierungstreue Schläger. Sie nutzen krasse Unterdrückungsmethoden und bleiben dabei in einem Maße ungestraft, wie es bei uniformierten Sicherheitskräften schwerer möglich wäre.
Skrupellos ist Maduro auch beim Erhalt seiner Koalition vorgegangen. Schon in den ersten Monaten im Amt entließ er Regierungsmitglieder, die eigene Pläne verfolgten oder gar vorsichtig Kritik äußerten – angefangen 2014 mit dem Finanz- und Planungsminister Jorge Giordani und dem Minister für Erdöl und Bergbau, Rafael Ramirez und bis zu Miguel Rodriguez Torres, Minister für Inneres und Justiz, und Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz 2017. Dies sind deutliche Zeichen an alle anderen in der Regierung und sichern deren Geschlossenheit. Die scharfen innenpolitischen Konflikte und die Rhetorik von Radikalen in der Opposition und von deren Unterstützern in der US-Regierung stärken ebenfalls die Wahrnehmung in der Regierung Maduro, dass Geschlossenheit ein Schlüssel zu Schutz und Sicherheit ist.
Die ersten bedeutenden Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela verhängten die USA nach der Einsetzung der Verfassunggebenden Versammlung im August 2017, mit der das venezolanische Parlament beiseitegedrängt wurde: Finanzielle Sanktionen sollten die Regierung Maduro hindern, über das US-amerikanische Finanzsystem neue Schulden zu machen. Das sollte die weitere Finanzierung eines korrupten und dysfunktionalen Wirtschaftsmodells unterbinden. Diese Sanktionen verhinderten auch, dass Firmen aus Venezuela Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen eingingen – die sind wichtig für die Erdölförderung.
Venezuela verkaufte auf Umwegen Öl an Indien und China
Im Jahr 2019 ergriff die Trump-Regierung die von vielen als Ultima Ratio betrachtete Maßnahme, US-Unternehmen jegliche Geschäfte mit Venezuelas staatlicher Erdölgesellschaft zu verbieten. Diese Strafmaßnahmen wurden dann weiter verschärft, etwa durch sekundäre Sanktionen gegen ausländische Unternehmen, die Geschäfte mit Venezuela tätigten. Die Folge war ein Rückgang der Staatseinnahmen Venezuelas um mindestens 17 Milliarden Dollar, vermutlich viel mehr. Doch die Regierung Maduro schusterte Lösungen zusammen, auf Umwegen Öl an Indien und China zu verkaufen – zwar weniger profitabel, aber es bringt ihr dringend benötigtes Geld.
Autor
David Smilde
ist „Charles A. and Leo M. Favrot Professor of Human Relations“ an der Tulane University in den USA und Senior Fellow am Washington Office on Latin America.Die von den Finanzsanktionen verschärfte Devisenkrise hat die Regierung Maduro zudem zu Liberalisierungen der Wirtschaft veranlasst, die noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. Sie hat die Devisenkontrollen aufgehoben, die erhebliche wirtschaftliche Verzerrungen und Gelegenheiten für Korruption nach sich gezogen hatten, Preise freigegeben und eine De-facto-Dollarisierung erlaubt. Zusammen mit Auslandsüberweisungen hat das zwar nicht zur Erholung der Wirtschaft geführt, wohl aber zu Veränderungen, die manchen Erleichterung und allen das Gefühl einer Chance bringen.
Gespaltene Opposition
Die venezolanische Opposition ihrerseits ist schon lange gespalten in Verweigerer, die denken, der Chavismus sei illegitim und habe von Anfang an Wahlen manipuliert, und anderen, die eine Beteiligung an Wahlen für den besten Weg halten, das autoritäre System zu bekämpfen – selbst wenn sie es für manipuliert halten. Als Hugo Chávez im August 2004 das Abwahlreferendum gewann, erhob die Opposition ohne jeden Beweis Betrugsvorwürfe und boykottierte 2004 die Regionalwahlen und 2005 die Parlamentswahlen. Das war einer der wichtigen Gründe dafür, dass Hugo Chávez vor fünfzehn Jahren seine Macht konsolidieren konnte.
Von 2006 bis 2015 überwog in der Opposition dann der Beteiligungsflügel. 2015 erlitt die Regierung Maduro eine herbe Wahlniederlage. Die veranlasste sie, Schritt für Schritt das Wahlsystem zu untergraben, das sie selbst eingerichtet hatte. Im Jahr 2016 erklärte der nationale Wahlrat den Versuch, ein Referendum zu Maduros Abwahl anzusetzen, für nichtig. Ein Jahr später billigte er den Vorschlag der Regierung, ohne das von der Verfassung geforderte Referendum Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung abzuhalten, und die verzerrten Regeln für diese Wahl. Kurz vor den Gouverneurswahlen im Oktober 2017 nahm er dann zahlreiche illegale Veränderungen an Wahlbezirken vor.
Dies alles bestärkte die Verweigerer in der Opposition. Die boykottierte geschlossen die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung, war aber uneinig über eine Beteiligung an den Gouverneurs- und Regionalwahlen 2017 sowie der Präsidentschaftswahl 2018. Im Jahr 2020 enteignete der von Maduro kontrollierte Oberste Gerichtshof mehrere Oppositionsparteien, ernannte einen regierungsfreundlichen nationalen Wahlrat und rief für Dezember 2020 zu Parlamentswahlen auf. Diese boykottierte die Opposition unter Führung von Juan Guaidó erneut; stärker gemäßigte Oppositionsführer wie Henrique Capriles liebäugelten eine Zeit lang mit einer Beteiligung.
Es ist der Opposition mit der Strategie des Wahlboykotts gelungen, Nicolás Maduros Präsidentschaft in den Augen führender demokratischer Länder der Welt zu delegitimieren. Aber die Folge ist auch, dass sie keine Stützpunkte mehr in den Institutionen des Landes hat und für die Bevölkerung irrelevant geworden ist. Guaidós Beliebheitswerte übersteigen die von Maduro nur noch um ein paar Punkte. Rund siebzig Prozent der Venezolaner haben von der ganzen politischen Klasse genug und identifizieren sich mit keiner der beiden Seiten.
Einige Veränderungen machen aber einen Wandel jetzt wahrscheinlicher als noch 2020. Erstens beruht Juan Guaidós Anspruch auf die Interimspräsidentschaft darauf, dass er Präsident der 2015 gewählten Nationalversammlung war. Die Amtszeit dieser Abgeordneten ist jedoch seit Januar 2021 zu Ende, und ihr Legitimitätsanspruch hängt jetzt an kreativen juristischen Argumenten, die nicht jeden überzeugen. Im Januar hat die Europäische Union erklärt, sie werde Guaidó nicht bevorzugen und genauso behandeln wie andere Vertreter der Opposition. Kaum jemand denkt, dass Guaidós Projekt eine Chance hat, Wandel herbeizuführen.
Zweitens setzen US-Präsident Joe Biden und sein Team im Gegensatz zur vorherigen Regierung Trump auf diplomatisches Engagement und multilaterale Institutionen. Allerdings haben sie bisher die Linie der von Trump weitgehend beibehalten: Sie unterstützen weiter Guaidó und lassen die Sanktionen in Kraft. Das liegt zum Teil daran, dass Venezuela für die neue US-Regierung einfach keine Priorität hat; zum Teil aber auch, dass sich in Florida die große Mehrheit der venezolanischen Diaspora in den USA konzentriert und diese jede Politik unterstützt, die Verachtung für Maduro zum Ausdruck bringt. Dennoch erwarten die meisten Insider bis Jahresende Veränderungen der US-Politik gegenüber Venezuela.
Eine Koalition aus zivilgesellschaftlichen Gruppen
Auch Vorgänge in Venezuela führen zu Veränderung. In den vergangenen zwei Jahren hat eine Koalition aus zivilgesellschaftlichen Gruppen, die heute als „Foro Cívico“ bekannt ist, ein Maß an sektorübergreifender Einigkeit und Unabhängigkeit von politischen Parteien erreicht, wie man es in Venezuela bisher nicht kannte. Die Oppositionsparteien und -führer unter Guaidó haben darin eher eine Bedrohung als eine Chance gesehen und eine Neuauflage ihrer breiten Front angestrebt. Diese 2018 ins Leben gerufene Initiative hat, ganz in der korporatistischen Tradition politischer Parteien in Venezuela, zivilgesellschaftliche Organisationen nur als nützliche Bodentruppen für die Mobilisierung vor Ort betrachtet. Die politische Elite hält das für selbstverständlich, hinkt damit aber der Zivilgesellschaft hinterher: Die fordert seit Jahrzehnten, ihre Stimme und ihre Autonomie zu respektieren.
Die im Foro Cívico zusammengeschlossenen Gruppen haben im März eine Kandidatenliste für den Auswahlprozess zu einem neuen nationalen Wahlrat vorgelegt – trotz des Geschreis aus der Opposition um Guaidó, die diesen Prozess unter Leitung der im Dezember 2020 gewählten Nationalversammlung als grundsätzlich unrechtmäßig ansieht. Die Strategie ist im Mai aufgegangen: Zwei der fünf Rektoren – der Mitglieder des Wahlrats – und zwei der zehn stellvertretenden Rektoren gehören zur Liste des Foro Cívico. Der neue Wahlrat ist der für die Opposition seit Jahren am wenigsten ungünstige; das könnte der Beginn einer Veränderung sein.
Natürlich hat die Regierung Maduro lange versucht, die Opposition zu spalten: Sie hat die Wahlbedingungen so weit verschlechtert, dass große Teile von ihr Wahlen boykottierten, aber nicht so weit, dass sich niemand mehr beteiligte. Diese Strategie wird Maduro sicher weiterverfolgen. Doch Studien zu Übergängen weg von autoritären Systemen zeigen, dass sie dann eintreten, wenn gemäßigte Kräfte der Opposition beginnen, begrenzte Vereinbarungen mit moderaten Vertretern des Regimes zu treffen, und das in einem sich selbst verstärkenden Prozess Vertrauen aufbaut. Dazu brauchen die Teile der venezolanischen Zivilgesellschaft, die sich der Suche nach politischen Lösungen von innen verschrieben haben, eine klare Vorstellung von ihrer längerfristigen Strategie. Nur so können sie sicherstellen, dass Teilvereinbarungen sich zu einem Kreislauf aus wachsenden demokratischen Fortschritten fügen, statt dem „Teile und herrsche“ des Regimes Vorschub zu leisten.
Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller.
Neuen Kommentar hinzufügen