Keine echte Wahl

Wolfgang Ammer
Palästina
Im Frühjahr und im Sommer wählen die Palästinenser ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Eine demokratische Erneuerung wird das nicht bringen. Dafür ist die palästinensische Elite zu zerstritten und die Politik Israels zu destruktiv.

Dalia Hatuqa ist Journalistin und lebt in den USA und im Westjordanland.
Vor sechzehn Jahren stand ich vor einer Grundschule in Ramallah im Westjordanland Schlange, und nachdem mein Name mit der Liste der Wahlberechtigten abgeglichen war, konnte ich meine Stimme in der ersten palästinensischen Wahl seit 1996 abgeben. Die Präsidentschaftswahl des Jahres 2005 war meine erste Wahl überhaupt, und ich erinnere mich gut, wie aufregend ich es fand, mich an der Entscheidung in den palästinensischen Territorien zu beteiligen. Nun sieht es so aus, als hätte ich die Chance, noch einmal zu wählen. Allerdings sind die Begleitumstände heute ganz andere.

Die Präsidentschaftswahl 2005 folgte auf die Zweite Intifada und sorgte für große Hoffnung in den palästinensischen Territorien, die von einer israelischen Großoffensive und dem Tod des legendären Palästinenserführers Jassir Arafat erschüttert waren. Arafat hatte den palästinensischen Ministerpräsidenten Mahmud Abbas, der auch die Unterstützung der Fatah und der Vereinigten Staaten hatte, zu seinem Nachfolger als Leiter der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) bestimmt. Abgesehen von einigen kleinen linken Splitterparteien bildete die Hamas damals die einzige Opposition zur Fatah. Abbas siegte bei hoher Wahlbeteiligung mit klarem Vorsprung. Niemand – auch ich nicht – hätte zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass der Mann, der sich um die Nachfolge Arafats bewarb, auch sechzehn Jahre später noch das Ruder der Autonomiebehörde und der PLO halten würde.

Große Zweifel an den Wahlen

Bis heute leben die Palästinenser unter israelischer Besatzung. Und sie haben erlebt, wie Abbas nach und nach die Führung beinahe sämtlicher Organisationen der Palästinenservertretung an sich riss. Nicht nur dass Abbas inzwischen auch die Fatah leitet, die größte politische Partei der Palästinenser und die Regierungspartei des Westjordanlands, er ist auch Präsident der PLO und der Autonomiebehörde, die als Interim-Regierung der palästinensischen Gebiete gedacht war. Dieser dreifache Machtzugriff beeinträchtigt erheblich die Aussagekraft von Wahlen in den Palästinensergebieten – laut einer jüngsten Umfrage bezweifelt die Hälfte der Palästinenser, dass unter den gegenwärtigen Umständen freie und faire Wahlen überhaupt möglich sind.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2006 errang die Hamas einen entscheidenden Sieg über die Fatah. Aber die Ergebnisse wurden von Israel und den westlichen Geberländern, die die Hamas als Terrorgruppe einstufen, nicht anerkannt. Folglich verstärkten diese Geber ihre Unterstützung für die Fatah und starteten einen von den USA geförderten Umsturzversuch im Gazastreifen. Nach dem Abflauen dieses Konflikts weigerten sie sich, mit den Mitgliedern der Hamas zusammenzuarbeiten und kürzten die Hilfe für die Palästinenser, was schließlich eine bis heute andauernden Spaltung zwischen dem von der Hamas beherrschten Gazastreifen und dem von der Fatah-geführten Autonomiebehörde regierten Westjordanland zur Folge hatte. Demokratie in den palästinensischen Territorien schien offenbar nur so lange willkommen, wie ihre Resultate nicht den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft widersprachen.

Zynische Haltung zur palästinensischen Politik

In der palästinensischen Gesellschaft herrscht längst eine eher zynische Haltung zur palästinensischen Politik und ein Mangel an Vertrauen in die Führungsfähigkeit sowohl der Hamas wie der Fatah. Eine Dauerfrage ist, wie Wahlen oder auch Friedensverhandlungen abgehalten werden können, solange das Westjordanland und der Gazastreifen von zwei verschiedenen Gruppen regiert werden. Israelische Politiker, die in den Palästinensern keine verlässlichen Partner für den Frieden sehen wollen, verweisen gerne auf diese Spaltung zwischen Fatah und Hamas. Dabei scheint eine politische Einheit von Gazastreifen und Westjordanland gar keine Option zu sein: Die Regierung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu hat wiederholt deutlich gemacht, dass sie Abbas und die Autonomiebehörde in Ramallah genauso wie die Hamas im Gazastreifen behandeln würde, sollten die beiden Parteien jemals gemeinsame Sache machen: als Terroristen, mit denen Israel sich im Kampf sieht.

Nachdem nun Abbas die Wahlen per Dekret angesetzt hat, müssen sich Fatah und Hamas einigen, wie sie sicher durchgeführt werden können und welches Gericht bei Rechtsstreitigkeiten anzurufen ist. Schon hat die Hamas die Autorität der neu geschaffenen Verwaltungsgerichte angezweifelt, die nach dem Wunsch von Abbas im Falle von Wahlanfechtungen entscheiden sollen. Eine Überwindung solcher Hindernisse würde die Chancen erfolgreicher Wahlen erhöhen. Eine nicht minder wichtige Voraussetzung wäre allerdings ein kompletter Neuanfang der PLO. Einst als die alleinige Vertretung des palästinensischen Volkes betrachtet, hat sich diese Organisation schon seit langem zu einem korrupten Apparat entwickelt, dessen einziges Ziel darin besteht, die Alleinherrschaft von Abbas zu verlängern. 

Einbindung der Hamas

Eine institutionelle Reform sollte eine Einbindung der Hamas in die PLO ermöglichen. Die Hamas war lange ein Stachel im Fleisch der PLO; seit ihrer Gründung im Jahr 1987 bildete sie eine für viele Palästinenser attraktive, religiös orientierte Alternative zum palästinensischen Dachverband, der dem bewaffneten Kampf im Austausch gegen einen Friedensschluss mit Israel abgeschworen und sich von einer nationalen Befreiungsbewegung zu einer Regierungsorganisation gewandelt hatte.

Die in diplomatischen Zirkeln am häufigsten diskutierte Version einer Einbindung der Hamas sieht vor, dass sie sich nach dem Vorbild der Fatah formell in einen politischen und einen kämpfenden Arm spaltet. Die bewaffneten Kassam-Brigaden würden weiterhin auf verschiedenen internationalen Listen geächteter Terrorgruppen bleiben, aber die Hamas würde von den Sanktionen ausgenommen und könnte eine Position innerhalb der PLO einnehmen. 

Kein Aufbruch ohne institutionelle Erneuerung

So wie die Dinge heute stehen, könnten die Hamas und die Fatah durchaus eine gemeinsame Kandidatenliste für die im Frühjahr vorgesehenen Parlamentswahlen aufstellen – vorausgesetzt die Hamas verzichtet auf einen eigenen Kandidaten für die im Sommer folgende Präsidentschaftswahl. Erstaunlicherweise hat Ministerpräsident Mohammed Schtajjeh bereits verkündet, eine erneute Präsidentschaftskandidatur des 85-jährigen und sich keineswegs guter Gesundheit erfreuenden Abbas zu befürworten.

Das ruft zwangsläufig Vergleiche von Abbas mit Abdel­aziz Bouteflika hervor, dem hochbetagten algerischen Präsidenten, der sich 20 Jahre lang im Amt hielt, weit über die Zeit hinaus, in der sich sein fortgeschrittenes Alter deutlich bemerkbar machte.

USA müssen Ergebnis freier Wahlen akzeptieren

Ein solches Szenario verspricht keinerlei demokratische Erneuerung der politischen Landschaft Palästinas. Die sorgfältig eingefädelte Wahl ist eher als Versuch von Abbas zu werten, sich der neuen US-Regierung von Präsident Joe Biden zu empfehlen und gleichzeitig Demokratiewillen gegenüber den westlichen Geberländern und der internationalen Gemeinschaft zu demonstrieren. Abbas möchte Bidens Unterstützung für eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen Israel und der PLO erreichen – einen anderen Existenzgrund scheinen die Autonomiebehörde und die PLO nicht zu kennen.

Ohne eine längst überfällige institutionelle Erneuerung bleiben die Hoffnungen der Palästinenser auf positive Folgen von Wahlen vergebens. Israel hingegen muss Bereitschaft zeigen, auch öffentlich mit einer neuen Führung unter Einschluss der Hamas zu verhandeln; es ist allgemein bekannt, dass Netanjahus Regierung über ägyptische Vermittler ständig auch mit dieser Gruppierung in Kontakt steht, dies sollte also keine unüberwindliche Hürde sein. Und die Vereinigten Staaten müssen lernen, die Ergebnisse freier und fairer Wahlen zu akzeptieren, auch wenn sie ihnen nicht gefallen. Nur dann können Wahlen tatsächlich die nationale Einheit stärken, die die Palästinenser so dringend benötigen.

Der Kommentar ist in einer längeren Fassung bei "Foreign Policy" erschienen.

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