Gespaltene Gesellschaft

Indien zwischen Wirtschaftsboom und Verelendung

Von Klaus Julian Voll

Indien macht Schlagzeilen als Wirtschaftsmacht mit einem dauerhaft hohen Wachstum des Bruttosozialprodukts und einem großen Binnenmarkt mit kaufkräftigen Ober- und Mittelschichten. Doch vom Boom profitiert nur ein Teil der Bevölkerung, andere – vor allem auf dem Land – gehören zu den Verlierern.

Seit einigen Jahren entfaltet sich die kapitalistische Revolution vehementer als je zuvor in der indischen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte – das Land weist Wachstumsraten von zuletzt jährlich etwa neun Prozent auf. Indien soll bis 2030 Japan überholen und zur drittstärksten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Sein Bruttoinlandsprodukt hat die magische Grenze von einer Billion Dollar überschritten. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 892 USDollar wird Indien von der Weltbank zur Gruppe der Länder mit niedrigerem mittleren Einkommen („lower middle-income countries“) gerechnet.

Die indischen Privatunternehmer investieren kräftig im eigenen Land, neuerdings auch verstärkt in die Infrastruktur. Kapitalzuflüsse von ausländischen Unternehmen und Finanzinvestoren tragen zu dieser scheinbaren Erfolgsstory bei. Zudem drängen indische Wirtschaftskonzerne auf den globalen Markt und übernehmen dort ausländische Betriebe.

Der Boom kommt vor allem den Ober- und Mittelschichten zugute. Indien weist 36 Dollar-Milliardäre auf, darunter die führenden Großindustriellen des Landes, und liegt damit an der Spitze der Länder in Asien. 180 Milliarden US-Dollar beträgt allein das Vermögen der vier reichsten Inder. Die 40 Reichsten werden vom US-Wirtschaftsmagazin Forbes auf insgesamt 351 Milliarden US-Dollar geschätzt.Etwa 100.000 Inder sind Dollar-Millionäre (verglichen mit 345.000 Chinesen), ein Anstieg um ein Fünftel im vergangenen Jahr. Mehr als zwei Millionen Haushalte verfügen über mehr als 100.000 US-Dollar Jahreseinkommen, und jährlich wächst ihre Zahl um 14 Prozent. Die Zahl der Rupien-Millionäre – eine Million Rupien sind rund 17.000 Euro – wächst nicht nur in den Metropolen Neu-Delhi, Kalkutta, Chennai und Mumbai, sondern auch in den landesweit rund hundert städtischen Zentren. Alleine in Neu-Delhi gehören 1,38 Millionen Haushalte zu dieser Gruppe. Die Sparrate liegt bei fast 34 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), im Jahr 2002 waren es noch 23,5 Prozent.

Zehn Prozent der Gesellschaft, die Oberschicht sowie die obere städtische und ländliche Mittelschicht, verfügen über 33 Prozent der Einkommen und mehr als die Hälfte des gesamten nationalen Wohlstands. Sie kontrollieren auch große Teile der Schatten-Wirtschaft, die in den Statistiken nicht erscheinen. Es handelt sich überwiegend um Angehörige der drei oberen Kastengruppen, die insgesamt etwa 17 Prozent der Bevölkerung stellen. Das ärmste Fünftel verfügt dagegen nur über acht Prozent des Volkseinkommens, auf das ärmste Zehntel entfällt nur 0,21 Prozent des nationalen Wohlstands.

Der National Council of Applied Economic Research in Neu-Delhi definiert den Begriff „Mittelschicht“ als Haushalte mit einem jährlichem Einkommen,das der Kaufkraft von 20.000 bis 120.000 US-Dollar in den USA entspricht.Danach gehören sechs Prozent der Bevölkerung, etwa 60 Millionen Menschen, zur Mittelschicht. Legt man ein am Konsum orientiertes Kriterium an,nämlich den Besitz von Telefon, Farbfernseher und einem zwei- oder vierrädrigen Motorfahrzeug, dann ergibt sich hingegen eine indische Mittelschicht von etwa 200 Millionen Menschen. In West- und Südindien soll bereits 2020 der überwiegende Teil der Bevölkerung zur Mittelschicht zählen. In den wirtschaftlich rückständigen Bundesstaaten wie Uttar Pradesh, Bihar und Orissa wird dies für 2040 erwartet.

Doch die dynamische Wirtschaftsentwicklung hat eine dunkle Kehrseite: Die Armut nimmt ebenfalls zu, vor allem auf dem Land. 92 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind im informellen Sektor beschäftigt. Fast alle haben weder Alters- noch Gesundheitsversorgung. Die Nationale Kommission für Unternehmen im informellen Sektor kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als drei Viertel der Bevölkerung, also 836 Millionen Menschen, „arm und verwundbar“ sind und von weniger als 20,3 Rupien (weniger als 40 Eurocent) pro Tag leben.

Zugleich hat der informelle Sektor große Bedeutung für die Wirtschaft. 98 Prozent der indischen Unternehmen sind darin tätig und tragen zu etwa 60 Prozent des BIP bei. Die Regierung will deshalb die sozialen Rahmenbedingungen im informellen Sektor verbessern. Nach Angaben des indischen Industrieministers Ashwini Kumar ist die Zahl der „extrem Armen“ seit 1985 bereits um 431 Millionen gesunken.

Utsa Patnaik, Professorin an der Jawaharlal Nehru- Universität in Neu-Delhi,bezweifelt allerdings die offiziellen Angaben über den Rückgang der Armut. Etwa 150.000 Selbstmorde von Bauern zwischen 1997 und 2005, speziell in Andhra Pradesh und Maharashtra, seien ein Symptom für die große Krise in der Landwirtschaft, erklärt sie. Die Globalisierung und der Rückzug des Staates aus dem Entwicklungsprozess hätten in vielen Bundesstaaten die Armut erhöht und die Kaufkraft sowie die Ernährungssicherheit verringert. Eine willkürlich gesetzte Armutsgrenze schließe arme Bevölkerungsschichten von subventionierten Nahrungsmitteln aus, die zudem häufig zweckentfremdet würden, sagt Patnaik. In ländlichen Gebieten sei der Anteil der Menschen, die weniger als 2400 Kalorien täglich zur Verfügung haben, von 56 Prozent in den Jahren 1973/74 auf 75 Prozent in den Jahren 2003/04 gestiegen.

Das Wirtschaftswachstum geht offenbar an großen Teilen vor allem der ländlichen Bevölkerung vorbei. Mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung lebt ausschließlich von der Landwirtschaft. Dazu zählen mehrere Millionen Kleinbauern, die um ihre Existenz kämpfen, und mindestens 60 Millionen landlose Landarbeiter.

Nur rund vier Prozent des Sozialprodukts werden für Bildung ausgegeben. Ein gutes Drittel der Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben, darunter 150 Millionen Menschen über 35 Jahre. Trotz beträchtlicher Bildungserfolge ist die absolute Zahl der Analphabeten wegen des Bevölkerungswachstums nicht gesunken. Das Millenniumsziel „Bildung für Alle“ bis zum Jahr 2015 wird Indien nicht erreichen. Auch die Gesundheitsversorgung auf dem Land liegt mangels Personal im Argen.

AUFSTÄNDE IM ARMUTSGÜRTEL

Diese Bedingungen, vor allem im Armutsgürtel der Bundesstaaten mit einem hohem Anteil von Adivasis („Ureinwohner“) an der Bevölkerung, begünstigen das Erstarken politischer Gegeneliten. Außerhalb des linken parlamentarischen Spektrums wird der indische Staat von landesweit 25.000 bewaffneten Linksextremisten herausgefordert. Ein Viertel aller Distrikte der Indischen Union sind betroffen; vor allem gewaltbereite Maoisten haben sie infiltriert oder sogar unter ihre Kontrolle gebracht und bauen eine Parallelverwaltung und eine eigene Rechtsprechung auf.

Der renommierte Journalist Prem Shankar Jha sieht für diese von der Kommunistischen Partei Indien (Maoisten) angeführte Bewegung eine starke Unterstützung in den ländlichen Gebieten. Landlose Arme, überwiegend Adivasis und Dalits („Unberührbare“), haben nach seiner Einschätzung die Hoffnung weitgehend aufgegeben, von gewählten Volksvertretern in ihren Anliegen – etwa traditionelle Rechte zur Landnutzung zu stärken – angemessen vertreten zu werden. Der angesehene Autor Khushwant Singh meint: „Wir sind eine Demokratie, und wenn wir nicht etwas tun, um die Kluft zu überbrücken, die die Reichen von den bodenlos Armen trennt, dann werden wir ernsthafte Probleme sowie mehr Kriminalität, Korruption und Gewalt bekommen.“

Klaus Julian Voll leitete von 1983 bis 1987 die Friedrich-Ebert-Stiftung in Indien. Er war danach Sozialattaché an der deutschen Botschaft in Neu-Delhi.

welt-sichten 1-2008

 

erschienen in Ausgabe 1 / 2008: Globale Ungleichheit
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!