Ein eindeutiger Trend zu mehr oder weniger globaler Ungleichheit ist nicht zu erkennen
Von Branko Milanovic
Ob die globale Ungleichheit wächst, hängt davon ab, wie man sie definiert. Die Kluft zwischen reicheren und ärmeren Ländern ist der wichtigste Faktor der Ungleichheit zwischen den Individuen, doch auch die Ungleichheit innerhalb der Länder spielt eine wichtige Rolle. Sie muss genau bedacht werden, wenn man die globale Kluft mit internationalen Transfers verringern will.
Was bedeutet globale Ungleichheit? Wie groß ist sie? Nimmt sie zu? Und was kann man dagegen tun?
Um all das zu beantworten,muss man zunächst drei Konzepte von globaler Ungleichheit klar unterscheiden. Nach dem ersten und zweiten Konzept wird globale Ungleichheit am Unterschied zwischen den Pro- Kopf-Einkommen der Länder gemessen, im zweiten Konzept werden aber die Werte für jedes Land nach der Größe seiner Bevölkerung gewichtet. Ungleichheit im Sinne des ersten Konzepts sagt also etwas darüber aus, ob die Durchschnittseinkommen in den einzelnen Ländern sich annähern oder auseinander driften. Doch wenn die Wirtschaft in einem kleinen Land wächst, nutzt das weniger Menschen und wirkt sich daher weniger auf die globale Wohlfahrt aus als Wachstum in einem bevölkerungsreichen Land. Dies berücksichtigt das zweite Konzept mit der Gewichtung nach Bevölkerungsgröße.
Beide Konzepte gehen implizit davon aus, dass alle Einwohner eines Landes das dortige Durchschnittseinkommen bekommen,sie berücksichtigen also nicht die Ungleichheit innerhalb der Länder. Nur das dritte Konzept erfasst Ungleichheit sowohl zwischen als auch in Staaten:Hier wird sie zwischen Individuen gemessen. Alle drei Konzepte verwenden den Gini-Koeffizienten als Maß für Ungleichheit. Er liegt zwischen dem theoretischen Wert 0 – das heißt alle verfügen über das gleiche Einkommen – und dem gleichermaßen theoretischen Wert 100 – ein Land bzw. eine Person eignet sich das gesamte Einkommen an.
Grafik 1 zeigt,warum die Unterscheidung der drei Konzepte wichtig ist: Je nachdem, ob man das erste oder das zweite zu Grunde legt, hat sich die globale Ungleichheit im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts unterschiedlich entwickelt. Nach dem ersten Konzept hat seit Ende der 1970er Jahre die Ungleichheit zugenommen, und dieser Prozess hat sich erst in den vergangenen Jahren verlangsamt. Die Gründe dafür sind klar: Stagnation und Niedergang in lateinamerikanischen Ländern mit mittlerem Einkommen,in Osteuropa und der früheren UdSSR sowie ein dramatischer Rückgang des Durchschnittseinkommens im größten Teil Afrikas. Gleichzeitig haben die westlichen Länder beachtliche jährliche Wachstumsraten von knapp über zwei Prozent pro Kopf erzielt. Während die Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen also relativ und oft auch absolut zurückgefallen sind, sind die Länder mit dem höchsten Einkommen reicher geworden.
Nach dem zweiten Konzept ergibt sich jedoch genau der entgegengesetzte Trend. Denn China und Indien haben seit 1978 bzw. seit Mitte der 1990er Jahre ihr Wachstum enorm gesteigert. Nach Konzept 1 haben beide Länder in den Berechnungen nicht mehr Gewicht als zwei beliebige andere.Konzept 2 berücksichtigt dagegen, dass dort fast 40 Prozent der Weltbevölkerung leben. Da sowohl China als auch Indien sehr arm waren, als ihr Wachstum sich zu beschleunigen begann, führt die Zunahme ihrer Pro-Kopf-Einkommen dazu, dass die nach dem zweiten Konzept berechnete globale Ungleichheit deutlich gesunken ist. Rechnet man China heraus, so erhält man anstelle einer stetig sinkenden eine weitgehend stabile globale Ungleichheit. Diese schlichte Tatsache macht deutlich, dass der nach dem zweiten Konzept ermittelte Trend zu mehr Gleichheit entscheidend von der Wirtschaftspolitik und dem Wirtschaftswachstum in einem einzigen Land abhängt.
Einige werten die nach Konzept 1 berechnete Ungleichheit als Beleg dafür, dass infolge der Globalisierung die Ungleichheit gewachsen sei. Und das ist sie in verschiedener Hinsicht auch.Denn obwohl eine Standard- Vorhersage der neoklassischen Modelle besagt, dass unter den Bedingungen des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs sowie des Kapital- und Technologietransfers arme Länder schneller wachsen als reiche und die Einkommen sich somit annähern sollten, ist nichts derartiges geschehen.
Andere betrachten nur Konzept 2 und bejubeln die Wunder der Globalisierung. Das zweite Konzept entspricht tatsächlich eher einer Vorstellung von der Verteilung der globalen Wohlfahrt, lässt aber entscheidende Informationen über nationale Ungleichheit aus. Es würde uns eine akzeptable Annäherung an die Ungleichheit zwischen Individuen weltweit liefern,wenn die Ungleichheit innerhalb der Länder in den vergangenen 25 Jahren stabil geblieben wäre. Doch die hat leider in diesem Zeitraum in praktisch allen wichtigen Ländern zugenommen:in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien ab Ende der 1970er Jahre, in Russland seit dem Ende des Kommunismus, in China seit Beginn der Reformen und in jüngster Zeit in Indien. In einigen asiatischen Ländern liegt das zum großen Teil an der wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land, die in China und Indien deutlich zu Tage tritt.
Deshalb liefert die nach Konzept 2 berechnete Ungleichheit ein unvollständiges Bild. Zwar ist die Entwicklung der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen maßgeblich für Veränderungen der globalen Ungleichheit zwischen den Individuen (Konzept 3), doch sie ist kein hinreichender und manchmal ein irreführender Indikator. Die vier Punkte in Grafik 1 (für die Jahre 1988, 1993, 1998 und 2002), die die Ungleichheit nach Konzept 3 zeigen, sind ein genaueres Maß für globale Ungleichheit im persönlichen Wohlergehen.
WENIGER AUFWAND, ABER WENIGER AUSSAGEKRAFT
Dass Ungleichheit häufig nach Konzept 1 oder 2 berechnet und letzteres oft als Stellvertreter für die „wahre“ Ungleichheit zwischen den Menschen benutzt wird, liegt einfach daran, dass dafür sehr viel weniger Daten benötigt werden. Um nach Konzept 1 oder 2 zu rechnen, brauchen wir lediglich Daten zum Pro-Kopf-Einkommen und zur Bevölkerungszahl. Daher sind jährliche Berechnungen der Ungleichheit zwischen den meisten Ländern der Welt nach Konzept 1 oder 2 relativ einfach. Natürlich muss man in jedem Fall die Einkommen aus nationalen Währungen umrechnen auf ein gemeinsames Maß, in der Regel US-Dollar nach Kaufkraftparitäten. (Dabei wird für einen bestimmten Warenkorb die Kaufkraft einer Währung im Inland mit der Kaufkraft des US-Dollars in den USA verglichen. Das ergibt in armen Ländern meist einen höheren Wert als die Umrechnung nach offiziellen Wechselkursen; Anm. d. Red.)
Für Berechnungen nach Konzept 3 benötigt man dagegen zusätzlich Informationen über die nationale Einkommensverteilung. Die sind nur mit Haushaltsbefragungen zu gewinnen. Aber diese verwenden oft verschiedene Ansätze und Definitionen und erfassen unterschiedliche Personenkreise – im selben Land zu unterschiedlichen Zeitpunkten und noch viel stärker im Vergleich mehrerer Länder. Sie liegen auch nicht für alle Länder jährlich vor. Zudem waren Mitte der 1980er Jahre für China, die UdSSR und die meisten afrikanischen Länder gar keine Daten zur nationalen Einkommensverteilung verfügbar. Daher können nach Konzept 3 die ersten detaillierten Berechnungen, die mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung erfassen, erst für den Zeitraum nach etwa 1985 angestellt werden. Und deshalb kann eine solche Berechnung nicht jährlich durchgeführt werden, sondern nur in – je nach Land – mehr oder weniger gleichen Abständen von vier oder fünf Jahren.
Die vier Punkte in Grafik 1 zeigen, dass die globale Ungleichheit nach Konzept 3 von rund 63 Gini-Punkten 1988 auf 65 Gini-Punkte 1993 signifikant zugenommen hat. Seitdem ist die globale Ungleichheit etwa stabil geblieben. Dieser Berechnung liegen Haushaltsbefragungen in mehr als hundert Ländern zu Grunde, die knapp über 90 Prozent der Weltbevölkerung abdecken und auf die über 95 Prozent des globalen Einkommens entfallen. Untersuchungen, die andere Methoden und etwas andere Zusammenstellungen von Ländern und Befragungen verwenden, kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen über das Ausmaß der Ungleichheit nach Konzept 3.
Wie groß ist ein Gini von rund 65? Er ist größer als die Ungleichheit, die wir in irgendeinem einzelnen Land vorfinden – Südafrika und Brasilien, die Länder mit der größten Ungleichheit weltweit, haben Gini-Werten von etwa 60. Der Gini-Wert vermittelt jedoch keinen anschaulichen Eindruck vom Ausmaß der globalen Ungleichheit. Der ergibt sich eher,wenn man betrachtet, wie sich das globale Einkommen auf verschiedene Anteile der Menschheit verteilt. Die reichsten fünf Prozent weltweit beziehen etwa ein Drittel des globalen Einkommens (nach Kaufkraftparitäten), die reichsten zehn Prozent die Hälfte. Das heißt die restlichen 90 Prozent bekommen die restliche Hälfte des globalen Einkommens.Die untersten fünf bzw. zehn Prozent erhalten 0,2 bzw. 0,7 Prozent des Einkommens. Das bedeutet, dass das Verhältnis zwischen dem Durchschnittseinkommen der reichsten fünf Prozent und der ärmsten fünf Prozent der Menschen 165 zu 1 beträgt. Die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung verdienen in etwa 48 Stunden so viel wie die ärmsten fünf Prozent im ganzen Jahr.
Manche Untersuchungen haben festgestellt, dass die Werte für globale Ungleichheit seit den 1980er Jahren gesunken, andere, dass sie gestiegen oder stabil geblieben sind. Meine eigenen Ergebnisse zeigen Zickzack- Bewegungen: eine Zunahme um fast drei Gini-Punkte zwischen 1988 und 1993, gefolgt von einem Rückgang um einen Punkt bis 1998, dann eine Zunahme um einen Punkt bis 2002. Zu erklären ist das folgendermaßen: Um das Jahr 1990 vergrößerten das langsame Einkommenswachstum im ländlichen Indien und China und der Zusammenbruch der Wirtschaft in Osteuropa die globale Ungleichheit. Sie nahm wieder ab, als sich beide Entwicklungen im folgenden Fünfjahreszeitraum umkehrten. Zwischen 1998 und 2002 bewegten sich dann die reichsten und die ärmsten Teile der Weltbevölkerung auseinander: In der reichen Welt wuchs die Wirtschaft stark, während die meisten Teile Afrikas stagnierten. Diese Zickzack-Bewegungen wurden von bestimmten wirtschaftlichen Ereignissen in großen Ländern verursacht und stellen keinen Trend dar.
Ob es einen Zusammenhang zwischen der Globalisierung und der globalen Ungleichheit gibt, ist eine sehr strittige Frage. Im Prinzip kann die Globalisierung,vereinfacht definiert als Offenheit der Länder nach außen, die globale Einkommensverteilung auf drei Wegen beeinflussen. Erstens wirken sich offene Grenzen auf die nationalen Wachstumsraten aus. Die meisten Volkswirte sind sich einig, dass ein Zusammenhang zwischen offenen Märkten und mehr Wachstum besteht, aber nicht, ob das eher den armen oder den reichen Ländern zugute kommt. Im zweiten Fall würde die globale Ungleichheit offensichtlich eher zunehmen.
Zweitens wirken sich offene Märkte auf die nationale Einkommensverteilung aus,wenn auch in armen und reichen Ländern nicht unbedingt in die gleiche Richtung. Nach der einfachsten Theorie sollten offene Grenzen die Ungleichheit in armen Ländern verringern (denn dort würden ungelernte Arbeitskräfte von mehr Offenheit profitieren) und in reichen Ländern erhöhen (denn dort würden ungelernte Kräfte verlieren). Das entspricht aber nicht der Beobachtung: Wie wir gesehen haben,hat die Ungleichheit sowohl in armen als auch in reichen Ländern tendenziell zugenommen. Drittens könnte Offenheit auf bevölkerungsreiche Länder einen anderen Einfluss haben als auf kleine mit gleichem Einkommensniveau.
Je nachdem, wie jeder dieser Faktoren sich tatsächlich auswirkt,werden die Gesamtauswirkungen variieren. Im Idealfall würde die Globalisierung das Wachstum armer Länder zusätzlich fördern,wäre hinsichtlich der nationalen Einkommensverteilung neutral (oder würde auf mehr Gleichheit hinwirken) und würde eher bevölkerungsreichen als kleinen Ländern helfen. Somit würde die Globalisierung zwangsläufig die globale Ungleichheit verringern.
Doch diese letzte Schlussfolgerung hängt entscheidend von einer implizierten Annahme ab, die wir bislang nicht diskutiert haben:davon, dass bevölkerungsreiche Länder arm sind. Nimmt man aber an, dass sie reich sind, dann löst sich diese ganze Schlussfolgerung in Luft auf. In diesem Fall könnten die Gewinne der Globalisierung für reiche und bevölkerungsreiche Länder ausreichen, um die anderen Wirkungen aufzuheben und die globale Ungleichheit steigen zu lassen. Das zeigt, dass die Auswirkungen der Globalisierung auf die globale Ungleichheit davon abhängen,wo die bevölkerungsreichen Länder sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Einkommenshierarchie befinden. Mit anderen Worten: Selbst wenn die drei Faktoren in der besten denkbaren Weise wirken, kann die Globalisierung unterschiedliche Folgen für die globale Ungleichheit haben. Man kann keine allgemein gültige Aussage über die Beziehung zwischen beiden machen, sondern diese hängt in hohem Maße vom Zeitpunkt und von der Einkommensentwicklung in der Vergangenheit ab.
Welcher Teil der globalen Ungleichheit zwischen Individuen (Konzept 3) ist auf Unterschiede im mittleren Einkommen zwischen den Ländern zurückzuführen, welcher auf Einkommensunterschiede innerhalb der Länder? Der Großteil – etwa 70 Prozent – geht auf Unterschiede zwischen den Ländern zurück. Bürger oder Bürgerin eines reichen Landes zu sein bedeutet, dass man unabhängig von eigenen Anstrengungen einen hohen Bonus erhält. Auch wer sich dort entscheidet, gar nicht zu arbeiten, wird sich – von einigen Extremfällen abgesehen – in der oberen Hälfte der globalen Einkommenspyramide befinden und sehr wahrscheinlich besser gestellt sein als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Dass der Ort, an dem man lebt, so wesentlich ist,bedeutet eine Umkehr gegenüber der Lage etwa zur Zeit der industriellen Revolution: Damals beruhte mehr als die Hälfte der globalen Ungleichheit, soweit man sie grob abschätzen kann,auf Einkommensunterschieden innerhalb der Nationen. Mit anderen Worten: Früher wurde die Position eines Menschen in der globalen Einkommensverteilung von der sozialen Schicht bestimmte, heute ist der Wohnort entscheidend.
Trotzdem sind einige Menschen aus armen Ländern besser gestellt als manche aus reichen Ländern. Grafik 2 stellt die Position jedes Zwanzigstels der Bevölkerung eines Landes in der globalen Einkommensverteilung dar. Dazu berechnen wir für die ärmste (erste) bis reichste (zwanzigste) Gruppe von je 5 Prozent der Bevölkerung – sie sind auf der horizontalen Achse aufgetragen – das mittlere Einkommen in US-Dollar nach Kaufkraftparitäten. Die Linie für Deutschland zeigt zum Beispiel, dass die ärmsten fünf Prozent der Deutschen ein mittleres Einkommen haben, das sie im 73. Hundertstel der globalen Einkommensverteilung (senkrechte Achse) ansiedelt. Die nach dem Einkommen reichsten fünf Prozent der Deutschen gehören global zum obersten Hundertstel. Der Vergleich mit Brasilien oder China zeigt, dass etwa ein Drittel aller Brasilianer oder fast ein Fünftel aller Chinesen reicher sind als die ärmsten fünf Prozent der Deutschen. In Indien dagegen liegt die Einkommensspanne zwischen dem 4. und dem 70. Hundertstel der globalen Verteilung; die Verteilungen für Deutschland und Indien überschneiden sich überhaupt nicht.
Natürlich bedeutet das nicht, dass es keine Inder gibt, die reicher sind als einzelne Deutsche. Es heißt nur, dass die obersten fünf Prozent der Inder als Gruppe weniger wohlhabend sind als die ärmsten fünf Prozent der Deutschen.Würden wir die Verteilung feiner auflösen (zum Beispiel Hundertstel statt Zwanzigstel oder theoretisch einzelne Personen betrachten),dann gäbe es mit Sicherheit einige Überschneidungen. Doch sie wären gering.
UNGLEICHHEIT IN DEN LÄNDERN UND GLOBALE TRANSFERZAHLUNGEN
Die Grafik macht deutlich, dass es zu einfach ist, nur das mittlere Einkommen der Länder zu betrachten – globale Ungleichheit ist auch in der Verteilung innerhalb der Länder begründet. Und die Grafik enthält einige praktische Lehren für globale Transferzahlungen, sollten sie denn eingeführt würden.Wenn man nicht vorab weiß,wer die Nutznießer sind,muss man bei Transferzahlungen aus Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen in Länder mit niedrigem Einkommen die Verteilung im Empfängerland ernst nehmen. Das Risiko, dass Geld von einem deutschen Bürger oder einer deutschen Bürgerin jemandem zugute kommt, der reicher ist, ist höher,wenn deutsche Hilfe nach Brasilien geht als wenn sie nach Indien geht.
Sollten wir etwas gegen die globale Ungleichheit tun? Globale Ungleichheit ist aus verschiedenen Gründen von Bedeutung. Ethisch gesehen ist Verteilungsgerechtigkeit auf nationaler und auf globaler Ebene das gleiche. Pragmatisch gesehen erhöht die Globalisierung das Bewusstsein für das Einkommen anderer Menschen und damit die Wahrnehmung von Ungleichheiten sowohl unter den Armen als auch unter den Reichen. Selbst wenn die Globalisierung das reale Einkommen sämtlicher Menschen steigern würde, könnte sie daher die Gefühle von Mutlosigkeit und Entbehrung unter den Armen verschärfen statt abschwächen. Und selbst wenn das Einkommen aller steigen würde und zugleich die globale Ungleichheit stabil bliebe,wären die Vorteile der Globalisierung in absoluten Zahlen äußerst ungleich verteilt: Die Armen würden nur einen Bruchteil dessen gewinnen, was die Reichen bekämen. Denn die Ungleichheit bleibt nach den gängigen Definitionen stabil, wenn sich das Verhältnis zwischen dem Einkommen der Reichen und dem der Armen nicht ändert.
Die großen globalen Einkommensunterschiede sind, wie wir gesehen haben, vor allem auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zurückzuführen. Seit Anfang der 1980er Jahre haben viele Länder, eben die ärmsten, kein Wirtschaftswachstum erzielt. Um die Einkommensunterschiede unter den Individuen zu verringern, ist es also von allergrößter Bedeutung, die Wachstumsraten in armen Ländern zu steigern. Doch das reicht wahrscheinlich nicht aus. Die reiche Welt muss unter Umständen zusätzlich durch eine maßvolle globale Umverteilung versuchen, die Einkommensdisparitäten direkt zu vermindern. Drei grundlegende Progressionsregeln sollten eine solche globale Einkommensumverteilung leiten. Das Geld sollte erstens von den reichen in die armen Länder fließen (wie es bereits geschieht) und zweitens von Steuerzahlern stammen, die reicher sind als die Nutznießer der Transferleistungen. Drittens sollte es von Steuerzahlern, die innerhalb ihrer eigenen Länder relativ reich sind, an Menschen in den Empfängerländern gehen, die dort relativ arm sind, so dass die nationale Ungleichheit sowohl in den Geber- als auch in den Empfängerländern abnimmt. Das bedeutet, man muss die nationale Verteilung berücksichtigen: Empfängerländer mit geringerer Ungleichheit sollten Priorität erhalten. Denn bei Zahlungen an diese ist die Gefahr geringer, dass sie reichen Individuen nutzen und so die globale Ungleichheit weiter erhöhen.
Der Beitrag ist zuerst im Dezember 2007 in der britischen Zeitschrift „Soundings“ Nr. 37 erschienen; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Die hier geäußerten Meinungen sind die des Autors und nicht die einer der Organisationen, für die er tätig ist.
Branko Milanovic ist leitender Ökonom in der Forschungsgruppe der Weltbank und Gastprofessor an der School for Advanced International Studies der Johns Hopkins Universität (Baltimore). Er ist Autor des Buches „Worlds Apart. Measuring International and Global Inequality“, Princeton 2005.
welt-sichten 1-2008