„Mama Penee, hasst du die Deutschen?“

REUTERS/Christian Mang
Eine namibische Delegation besucht 2018 in Berlin eine Zeremonie zur Übergabe menschlicher Überreste von beim Völkermord getöteten Ovaherero und Nama.
Völkermord in Namibia
Ewald Katjivena hat ein Buch über seine Großmutter geschrieben, die vor mehr als hundert Jahren den Völkermord an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia überlebte. Er fordert eine Wiedergutmachung in Form von Projekten, die allen Namibiern helfen. 

Jahohora Inaavinuise Petronella ist elf Jahre alt, als sie mit ansehen muss, wie deutsche Soldaten ihre Eltern ermorden. Sie hört die Soldaten lachen, als die Körper ihrer Eltern nach den Gewehrschüssen zu Boden fallen. „Fast so, als würde sie schlafwandeln, ging das Mädchen langsam zu den Soldaten, um sich dem gleichen Schicksal wie ihre Eltern zu ergeben. Als sie näherkam, sah sie einen jungen deutschen Soldaten an, der etwas abseits der Gruppe stand. Ihre Blicke trafen sich – und mit einer kaum sichtbaren Bewegung mit seiner Kappe gab er ihr zu verstehen, dass sie weglaufen sollte, weg von ihren Eltern, weg von den Soldaten. In diesem Moment realisierte sie, dass es ihr Schicksal war weiterzuleben – und, dass sie leben wollte.“ So beginnt das Buch, das ihr Enkel über sie geschrieben hat. 

Jahohora gehört zum Stamm der Ovaherero. Und die Mörder ihrer Eltern sind deutsche Soldaten, die während der Kolonialzeit im damaligen Deutsch-Südwestafrika stationiert waren. Bis heute ist nicht klar, wie viele Ovaherero und Nama zwischen 1904 und 1908 getötet wurden. Schätzungen gehen von 60.000 bis 80.000 Ovaherero und 10.000 bis 20.000 Nama aus. Was damals geschah, gilt heute als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. 

Uazuvara Ewald Kapombo Katjivena lebt seit langem mit seiner Familie in Norwegen. Von seiner Großmutter hat er viel gelernt.

Jahohora Petronella, die Jahre später fünf Kinder hat und von allen nur noch Mama Penee genannt wird, wird Zeugin des Mordens und des Leids, das die Deutschen über das Land bringen. Einer ihrer Enkel, Uazuvara Ewald Kapombo Katjivena, der heute in Norwegen lebt, hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Im Interview mit „welt-sichten“ erzählt der 79-Jährige, dass er sich immer wieder gefragt hat, wie seine Großmutter mit dieser Tragödie klargekommen ist. „Wir Enkel dachten, dass dieses Erlebnis für sie ein guter Grund gewesen wäre, Weiße zu hassen. Aber sie hat immer zurückgefragt: Wenn du Deutsche hasst, was wird dann aus dir? Wirst du genau wie sie zum Mörder werden?“ Lange hätten er und sein Bruder nicht verstanden, was sie damit meinte. 

Nach dem Mord an ihren Eltern ist Jahohora erst mal eine lange Zeit zu Fuß auf der Flucht nach Khorixas. Als ihr Onkel stirbt, bei dem sie am Ende untergekommen war, wird sie wie so viele andere gezwungen, auf deutschen Farmen zu arbeiten. „Ich habe die Kinder unserer Mörder aufgezogen“, erzählt sie ihren Enkeln rückblickend. Sie habe ihre Häuser geputzt, ihre Kleidung gewaschen und gebügelt und für sie gekocht. „Ich habe meine eigene Familie mit den Resten dieses Essens ernährt, habe ihr ihre Kleidung und Schuhe angezogen, die sie nicht mehr brauchten.“ 

„Die deutschen Kolonialherren haben uns besessen. Sie hatten den Schlüssel zu  unseren Leben. Wenn dich eine weiße Person angestellt hat, geschah das im Austausch für dein Leben. Wenn du nicht bei ihnen angestellt warst, galtst du als Vagabund: Entweder wurdest du ermordet, wenn sie dich sahen, oder du wurdest in die Konzentrationslager in Lüderitz Bay geschickt, um an den Eisenbahnschienen zu arbeiten.“ 

Nachdem die Deutschen den Ersten Weltkrieg verloren hatten, mussten sie ihre „Schutzgebiete“ abgeben. Die unter der britischen Krone kämpfenden südafrikanischen Truppen hatten das Land erobert. 1919 wurde Südwestafrika unter das Mandat von Südafrika gestellt, doch auch danach ging die Unterdrückung der Einheimischen durch Weiße weiter. „Meine Großmutter wollte nie unter weißen Südafrikanern arbeiten“, erinnert sich ihr Enkel. Sie habe immer gesagt: „Ich wusste, warum wir mit den Deutschen kämpften. Sie wollten sich rächen und hatten Angst, dass wir wieder gegen sie rebellieren würden. Aber ich konnte nicht verstehen, warum uns die weißen Südafrikaner wie Feinde behandeln.“ Deshalb sei sie nach der Machtübernahme von Südafrika in eines der neu geschaffenen Native Reserves gezogen, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. 

Mama Penee stellte viele kritische Fragen

Doch die „Sicht des weißen Mannes“ bleibt allgegenwärtig, besonders als Mama Penees Enkel während der Apartheid zur Schule gehen. Die Großmutter, die selbst nur wenige Jahre in der Schule war, brachte ihre Enkel mit ihren kritischen Fragen immer wieder dazu, das Gelernte zu hinterfragen und für sich selbst zu denken. 

„Jetzt, wo uns die weißen Menschen die Zehn Gebote lehren, frage ich mich: Gelten sie nur für uns? Denn falls nicht, wie konnten sie dann in unser Land  kommen, uns ermorden, unsere Frauen missbrauchen und sogar unsere Kinder ermorden und uns unser Land weg­nehmen? Wie konnten sie all das tun und immer noch über die Zehn Gebote reden?“ 

Uazuvara Ewald Kapombo Katjivena, Mama Penee: Transcending the Genocide. University of Namibia Press, 2020, 32,60 Euro.

Noch heute bestimmen die Folgen des Kolonialismus und des Apartheid-Regimes das Leben der Namibier, besonders das der Ovaherero und Nama. „Die Deutschen besitzen immer noch viele Farmen, die sie nun in Tourismusbetriebe umwandeln. Das heißt, wenn Touristen nach Namibia kommen und die schöne Landschaft bewundern, bezahlen sie dafür die Deutschen und nicht die Namibier. Und unsere Regierung tut nichts, um das zu ändern“, sagt Katjivena. 

Auch darum fühlen sich die Ovaherero bei den seit 2015 laufenden Gesprächen mit Deutschland nicht genügend von ihrer eigenen Regierung vertreten. „Es laufen gerade zwei Verhandlungen parallel – die der namibischen Regierung mit der deutschen und die der Ovahereros mit ihr.“ Im vergangenen August berichteten deutsche und namibische Medien über ein Angebot Deutschlands von zehn Millionen Euro Entschädigung für die Nachkommen des Völkermords. Das Angebot wurde weder von deutscher noch namibischer Seite offiziell bestätigt; Katjivena nennt es ohnehin eine „Beleidigung für uns“.  

Autorin

Melanie Kräuter

ist Redakteurin bei "Welt-Sichten".
Auf die Frage, was er von der deutschen Regierung erwartet, erklärt Katjivena: „Vielleicht denke ich wegen meiner Großmutter anders über manche Dinge. Mir geht es nicht darum, ob sich die Deutschen entschuldigen oder nicht.“ Der 79-Jährige ist der Ansicht, dass man sich auf eine „Wiedergutmachung“ einigen sollte, und zwar in Form von Projekten – etwa zur Verbesserung der Wasserversorgung oder indem die Deutschen Namibiern helfen, kleine Gewerbe aufzubauen. „Die Projekte sollten dazu beitragen, dass Namibia unabhängiger von anderen Ländern wird.“ Denn „wenn Deutschland nur Geld an die Nachkommen der Opfer des Völkermords zahlt, was geschieht dann mit dem Geld? Das kann zu großen Problemen zwischen uns und anderen ethnischen Gruppen führen“, sagt er.  

Angst vor einem Präzedenzfall

Er glaubt, die deutsche Regierung habe „Angst, einen Präzedenzfall zu schaffen“, und spreche deswegen nicht gern über Entschädigung. „Wenn sie uns entschädigen, werden andere Länder wie der Kongo oder Tansania das auch fordern.“ Tatsächlich hat Burundi Ende August 36 Milliarden Euro an Reparationen „für deutsche Aggressionen“ verlangt. 

Immer wieder hat Ewald Katjivena mit seiner Großmutter über den Genozid gesprochen und darüber, wie sich Afrika wohl entwickeln würde. Oft ging es dabei um grundsätzliche Fragen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. 

„Natürlich werden die Weißen den  Gedanken nicht mögen, dass du ihnen ebenbürtig bist, solange du da bist, um ihr Leben einfacher und profitabler zu machen. Sie wollen, dass du ihre Ansicht akzeptierst, dass du nicht so gut bist wie sie. Doch wenn du ihnen glaubst, dass sie bessere Menschen sind als du, wird sich nichts ändern.“  

Ewald Katjivena hat Namibia schon 1964 verlassen. Doch als hochrangiges Mitglied der Partei South­-West Africa People’s Organisation (SWAPO) engagierte er sich unter anderem auch von Tansania, Ägypten, Algerien und Belgien aus für die Unabhängigkeit seiner Heimat. Während seines Studiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin lebte er mehrere Jahre in Deutschland. Später arbeitete er als Filmemacher und bei der Namibia Broadcasting Company, die nach der Unabhängigkeit die „Stimme des neuen Namibias“ wurde. Seine Großmutter erlebte die Unabhängigkeit 1990 nicht mehr – sie starb 1975 im Alter von 82 Jahren. Doch sie wäre wohl stolz auf ihren Enkel, der ihre Geschichte nun weitererzählt. 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2020: Erbe des Kolonialismus
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