Diese Studie ist lange überfällig und sollte Pflichtlektüre für alle Europapolitiker in Brüssel und den anderen Hauptstädten der EU-Mitglieder sein. Die Herausgeber von der Afrikanischen Union und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nehmen für sich in Anspruch, den ersten umfassenden Bericht überhaupt zum Thema Migration aus afrikanischer Sicht vorgelegt zu haben. Ob das so ist, sei dahingestellt, ist aber auch egal: Der „Africa Migration Report“ ist wichtig und lesenswert.
Zum einen zeigt er, wie vielschichtig Migration und Entwicklung in Afrika miteinander verwoben sind. In den insgesamt 16 Kapiteln geht es etwa um den Zusammenhang von Migration und Wirtschaft, Umweltveränderungen, Sicherheit, Urbanisierung und Gesundheitsversorgung. Zum anderen setzt er der vor allem in Europa vorherrschenden Angsterzählung etwas entgegen, migrierende Afrikanerinnen und Afrikaner wollten vor allem übers Mittelmeer nach Norden. Vier von fünf Migrantinnen und Migranten in Afrika haben keineswegs die Absicht, ihren Kontinent zu verlassen, heißt es in der Studie mit Verweis auf Zahlen der IOM. Politik in Afrika, schreiben die Autorinnen in der Einleitung, „sollte sich europäische Ängste vor Migration als Problem nicht zu eigen machen, denn Migration ist Teil der DNA afrikanischer Gemeinschaften, Wirtschaft und Gesellschaft“.
Gegenwärtig seien kaum Stimmen aus Afrika in der Debatte zu vernehmen, etwa auf Konferenzen oder in Form von wissenschaftlichen Arbeiten, heißt es in der Studie. Das Ergebnis sei, dass der westliche Blick auch in Afrika vielerorts die Politik bestimme und Migration als Problem gesehen werde, das gelöst werden müsse. Migration sei aber eine afrikanische „Lebenswirklichkeit“, die sowohl den Herkunfts- als auch den Zielländern und erst recht den Migrantinnen und Migranten Nutzen bringen könne, wenn sie vernünftig reguliert würde. Die internationale Migrationsforschung müsse deshalb „dekolonisiert“ werden; es brauche dringend mehr Expertise aus Afrika.
Optimistische Szenarien für das Jahr 2050
Die Afrikanische Union (AU) habe längst erkannt, dass Migration wichtig sei für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung des Kontinents, heißt es in der Studie (was auch als Eigenlob zu verstehen ist). Kritisch äußern die Autorinnen sich zur Migrationspolitik der AU-Mitglieder: Die sei häufig ohne Konzept und ignoriere AU-Empfehlungen; die Staaten tauschten sich zu wenig über ihre Erfahrungen mit der Regulierung von Migration aus. Das Protokoll zur Personenfreizügigkeit im Rahmen der Afrikanischen Freihandelszone, die seit Juli in Kraft ist, hätten bislang nur vier Staaten ratifiziert.
Im abschließenden Kapitel entwerfen die Autorinnen und Autoren drei Szenarien, wie im Jahr 2050 Migration in, aus und nach Afrika aussehen könnte. Sie betonen, dass das von einer Vielzahl von Faktoren abhänge, die man derzeit nur schwer absehen könne, etwa fortschreitende Umweltveränderungen, technologische sowie politische und wirtschaftliche Entwicklungen. Und sie betonen, dass Aussagen über den Kontinent als ganzen grundsätzlich fragwürdig seien. Dennoch: In allen drei Szenarien ist der Kontinent regelrecht aufgeblüht oder steht zumindest deutlich besser da als heute, nutzt innerafrikanische Migration als Entwicklungsmotor oder zieht sogar Fachkräfte aus dem Ausland an. Das ist vielleicht etwas zu optimistisch. Aber angesichts der vor allem auf kurzfristige Abwehr und Abschottung zielenden europäischen Politik ist es geradezu erfrischend, mal mit einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft konfrontiert zu werden.
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