Corona ist auch eine Chance

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UN Photo/Eskinder Debebe

Videokonferenz statt Flugzeug: UN-Generalsekretär António Guterres tauscht sich im Mai mit Psychologen aus Südafrika und ­Pakistan aus. Digitale Formate haben sich während der Covid-19-Pandemie bewährt.
 

Hilfsorganisationen
Reisebeschränkungen, Ausgangssperren, weniger Geld: Corona erschwert die Arbeit von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen. Doch manche Neuerung könnte sich auch über die Pandemie hinaus bewähren.

Normalerweise löst Audace Manirahinyuza Konflikte, indem er Menschen in einem Raum versammelt, wo sie miteinander diskutieren, sich anschreien und auch mal umarmen. Seit Anfang 2018 arbeitet der Deutsche als Friedensfachkraft für das evangelische Werk Brot für die Welt in Haut-Katanga im Südosten der Demokratischen Republik Kongo. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie muss er Streit zwischen der Bevölkerung und Minenunternehmen in der rohstoffreichen Region anders schlichten – mit Abstand und ohne hitzige Diskussionen.

Die Provinz Haut-Katanga ist reich an Kupfer und Kobalt. Minenkonzerne, aber auch Kleinschürfer holen die Rohstoffe aus dem Boden. Manchmal kommt es dabei zu Konflikten mit der Bevölkerung, etwa wenn Gemeinden für ein Bergbauprojekt von ihrem Land vertrieben werden oder weil Unternehmen Umweltstandards nicht einhalten. Manirahinyuza unterstützt die lokale Menschenrechtsorganisation SADRI und versucht, mit Hilfe des sogenannten Forumtheaters der lokalen Bevölkerung eine Stimme zu geben und zu verhindern, dass es zu Gewalt kommt.

Vor der Covid-19-Pandemie sah das so aus: Zunächst bringt Manirahinyuza Anwohner, Minenunternehmer und Lokalpolitiker an einen Tisch und lässt sie diskutieren. Anschließend inszenieren die Streitparteien den Konflikt als Theaterstück. Bis zu hundert Menschen kommen zu solchen Aufführungen. Mit Zwischenrufen beeinflusst das Publikum das Geschehen auf der Bühne und schlägt verschiedene Lösungen vor. Im Idealfall wird später umgesetzt, was auf der Bühne spielerisch erprobt wurde.

Jetzt sind große Versammlungen verboten, obwohl es im Kongo vergleichsweise wenig Corona-Fälle gibt. Doch einfach aufhören kommt für Manirahinyuza nicht in Frage. Seit Mai arbeitet er mit einer kleineren Gruppe von zehn Delegierten und inszeniert Konflikte vor leeren Zuschauerrängen und mit Abstand auf der Bühne. Die Aufführung wird gefilmt und über einen lokalen Fernsehsender ausgestrahlt. Ein gleichwertiger Ersatz sei das nicht, weil die Diskussionsrunden im Vorfeld und die Interaktion mit dem Publikum fehlten, sagt Manirahinyuza. Die Friedensarbeit beruhe darauf, dass Menschen sich kennenlernen, miteinander sprechen und Vertrauen zueinander finden.

Mit weniger Geld zurechtkommen

Nicht nur in der Friedensarbeit hat Corona die Arbeitsweise von Entwicklungs- und Hilfsorganisationen durcheinandergewirbelt. Zu kämpfen haben viele Organisationen und deren Mitarbeiter vor allem mit finanziellen Schwierigkeiten. Oxfam verkündete bereits im Mai, 18 Länderbüros im globalen Süden zu schließen und 1450 Stellen zu streichen, unter anderem weil Spendenevents abgesagt wurden und Oxfamläden schließen mussten. In Großbritannien stehen einer Umfrage zufolge knapp 5000 kleinere Entwicklungsorganisationen vor dem Bankrott. Insgesamt mussten in Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten die Hälfte aller dortigen Entwicklungs- und Hilfsorganisationen finanzielle Einbußen hinnehmen, wie aus einer Umfrage der Onlineplattform Devex hervorgeht. In Asien und Europa waren es 40 Prozent.

Autor

Moritz Elliesen

ist Online-Redakteur bei "welt-sichten".
Auch deutsche Entwicklungs- und Hilfsorganisationen müssen mit weniger Geld zurechtkommen, wie eine im Juni veröffentlichte Umfrage des entwicklungspolitischen Dachverbands Venro zeigt, an der von den insgesamt 139 Mitgliederorganisationen 72 teilgenommen haben. Demnach beklagt ein Drittel der Organisationen sinkende Spendeneinnahmen und Fördermittel. Mehr als jede zehnte Organisation fühlt sich existenziell bedroht. Die Unsicherheit sei groß, sagt Venro-Geschäftsführerin Heike Spielmans. „Es ist noch nicht abzusehen, wie sich die Pandemie langfristig auf die Einnahmen auswirkt.“ Klar ist, dass die Angestellten die Einbußen bereits jetzt zu spüren bekommen: Sechs Prozent der Organisationen mussten Mitarbeitende entlassen, heißt es in der Venro-Studie; 17 Prozent der befragten Organisationen haben Kurzarbeit angemeldet.

Doch die Krise birgt auch Chancen für Reformen. Vor allem zu Beginn der Pandemie hofften Fachleute, dass lokale Organisationen im globalen Süden gestärkt würden, weil internationale Fachkräfte nicht mehr ins Land kamen. Dann würde die Pandemie die Umsetzung eines alten Beschlusses voranbringen: Bereits 2016 hatten Geberländer und UN-Organisationen beim humanitären Weltgipfel in Istanbul beschlossen, Einheimischen im internationalen Hilfssystem mehr Gewicht einzuräumen und sie finanziell besser auszustatten. 

Die Politikwissenschaftlerin Léa Moutard des in London ansässigen GISF (Global Interagency Security Forum), ein Forum von 120 zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen, ist skeptisch. Lokale Organisationen im globalen Süden würden nicht automatisch gestärkt, sagt sie: „Der von Covid-19 erzwungene ungeplante Abzug von internationalen Mitarbeitern kann durchdachte und politisch gewollte Veränderung nicht ersetzen.“ Sie plädiert dafür, dass Stiftungen oder staatliche Entwicklungsbehörden Organisationen aus dem Süden verstärkt direkt finanzieren. Immerhin: In vielen großen Organisationen hätten Mitarbeitende aus dem globalen Süden mehr Verantwortung übernommen und mehr Mitsprache bei Entscheidunden in Projektländern eingefordert.

Bei lokalen Organisationen kommt weniger an

Eine gemischte Zwischenbilanz zieht auch eine Studie des britischen Overseas Development Institute. Die Leistung lokaler Organisationen werde zwar während der Pandemie oft betont. Aber von den Corona-Hilfsgeldern komme nur wenig bei ihnen an. Von den 2,4 Milliarden US-Dollar aus dem Spendenaufruf der Vereinten Nationen hätten einheimische Gruppen weniger als ein Prozent bekommen. Der Großteil wurde über UN-Organisationen abgewickelt.

Zumindest hierzulande wird die Pandemie die Arbeitsweise in Entwicklungs- und Hilfsorganisationen dennoch verändern. Vor allem bei Besprechungen und Veranstaltungen könnten in Zukunft digitale Formate zum Einsatz kommen. „Man hat gemerkt, dass das gut funktioniert“, sagt Venro-Geschäftsführerin Spielmans. Diskussionsveranstaltungen etwa seien leichter zu organisieren, wenn die Anreise wegfällt, und es gebe mehr Beteiligung. Auch Partnerinnen und Partner aus dem Süden ließen sich so besser einbinden. Ganz auf digitale Formate umzusteigen, kann Spielmans sich jedoch nicht vorstellen. Es fehle das Drumherum, etwa der Smalltalk am Rande von Konferenzen oder die Diskussion beim Mittagessen. „Ohne persönliche Begegnungen geht es nicht“, sagt sie. 

Auch Manirahinyuza will manche Neuerung für seine Arbeit im Kongo beibehalten. Zum Beispiel will er die Theaterstücke weiter filmen und im Fernsehen ausstrahlen, selbst wenn Vorführungen vor Publikum wieder möglich sind. „So erreiche ich mehr Menschen“, sagt er. Vor allem gefällt ihm, dass er seine Kolleginnen und Kollegen von Brot für die Welt in Deutschland besser kennengelernt hat. Er kommuniziere jetzt viel öfter über Skype oder Zoom mit ihnen. „Der Austausch ist viel intensiver geworden, und wir reden auch mal über persönliche Dinge“, sagt er. 

Als sich die Pandemie im Frühjahr in Europa und den USA ausbreitete, hatte Manirahinyuza überlegt, ob er mit seiner Familie das Land verlassen soll. Heute ist er froh, dass er geblieben ist und weiterarbeiten kann. „Die Probleme rund um den Bergbau verschwinden nicht wegen der Pandemie, und die lokale Bevölkerung kann nicht einfach weg“, sagt er. 

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erschienen in Ausgabe 10 / 2020: Idealismus und Karriere
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