Genf/New York (epd). Paula Donovan ist sich sicher. UN-Generalsekretär António Guterres hat auf ganzer Linie versagt. Drei Jahre nach einem UN-Sondergipfel täten die Vereinten Nationen immer noch zu wenig gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch durch Beschäftigte der Weltorganisation. Donovan leitet von New York aus die globale Kampagne Code Blue, die sich seit 2015 für die Opfer einsetzt.
Der Sprecher des angegriffenen UN-Generalsekretärs, Stéphane Dujarric, hält dagegen: Es gebe eine starke Koalition, die gegen die "Geißel" Missbrauch vorgehe. Zu ihr zählten die UN, Mitgliedsstaaten, Blauhelmsoldaten und humanitäre Partner.
Tatsächlich ist der Kampf gegen sexuellen Missbrauch und Gewalt seit dem Gipfeltreffen im September 2017 in allen UN-Organisationen Thema. Es gibt Schulungen, an denen alle Angestellten teilnehmen müssen. Und es herrscht deutlich mehr Transparenz. Alle Anschuldigungen gegen Blauhelmsoldaten und anderes UN-Personal werden öffentlich gemacht. So ist das tagesaktuelle Bild für jeden einsehbar.
Und dieses Bild ist nicht gut: Mitte Juli lagen 264 Vorwürfe wegen sexueller Ausbeutung oder Missbrauchs von 305 mutmaßlichen Opfern gegen 277 UN-Angestellte vor. Blauhelmsoldaten sind darin noch gar nicht enthalten: 2020 gab es bislang gegen sie 25 weitere Vorwürfe.
Anklagen werden fallengelassen
Im Kern geht der Streit darum, wie solche Vorwürfe aufgeklärt werden. Bei Blauhelmen ist die Lage schwierig, weil nicht die UN, sondern die entsendende Armee zuständig ist. Aber auch bei den UN ist das Verfahren kompliziert.
Die internen Untersuchungen verliefen zu oft im Sande, kritisiert Donovan. "2019 lag der Anteil der Anklagen, die entweder wegen Mangels an Beweisen fallengelassen oder nicht aufgeklärt wurden, bei 94 Prozent." Donovan fordert deshalb eine unabhängige Rechtsinstanz, die Vorwürfe gegen UN-Personal untersucht. Die UN unterstützen diese Forderung nicht.
Stattdessen wurden nach dem Sondergipfel hochrangige Beamte mit dem Kampf gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch beauftragt. Guterres, der noch frisch im Amt war, verlängerte etwa die Beauftragung von Jane Holl Lute, die im Rang einer Untergeneralsekretärin als UN-Sonderkoordinatorin oberste Vorkämpferin sein sollte. Doch eine Suche im UN-Archiv ergibt, dass sie zuletzt im März 2018 öffentlich zu dem Thema gesprochen hat. Den jährlichen Bericht zu sexueller Ausbeutung und Missbrauch stellt seither die Opferanwältin Jane Connors vor.
Zuständige UN-Mitarbeiterin hat andere Prioritäten
Jane Holl Lute, die bei den UN schon für Blauhelmeinsätze zuständig war und unter US-Präsident Barack Obama Staatssekretärin im Heimatschutzministerium, wurde von Guterres im August 2018 zusätzlich mit der Vermittlung im Zypernkonflikt betraut. Außerdem ist Lute CEO und Präsidentin von SICPA in Nordamerika, einem weltweit führenden Anbieter von Sicherheitslösungen für Banknoten und Dokumente. Sie sitzt im Aufsichtsrat des Zentrums für Internetsicherheit sowie des Risikoanalysten Marsh & McLennan, eine US-Agentur vermittelt sie zudem als Rednerin in Sachen Cybersicherheit. Ihre UN-Posten hält sie dessen ungeachtet weiter. Für Paula Donovan ein Skandal.
"Ihr Interesse an sexuellem Missbrauch ist, wenn es überhaupt noch existiert, sehr weit unten auf ihrer Prioritätenliste", sagt die Campaignerin. "Sie hat ein Büro bei den UN, aber sie ist nicht dort." Die UN-Gehaltstabelle sieht für Lute normalerweise inklusive Zuschläge knapp 300.000 US-Dollar Jahresgehalt vor.
"Wir gehen das Thema offensiv an"
Ob und wie viel sie davon tatsächlich erhält, wollten sie und die UN auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) nicht mitteilen. Die Kritik an Lute wies Guterres-Sprecher Stephane Dujarric aber zurück. "Der UN-Generalsekretär hat nicht nur volles Vertrauen in die Arbeit von Jane Holl Lute, sondern er ist sehr zufrieden mit dem, was sie erreicht hat", heißt es in der schriftlichen Antwort. Die Arbeit gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch laste zudem nicht nur auf Lutes Schultern. Es gebe viele, die sich um das Thema kümmerten. "Niemand, vor allem nicht der Generalsekretär, denkt, dass wir uns ausruhen können - wir gehen das Thema weiter offensiv an."
Das ist offenbar auch nötig. Denn trotz aller erklärten Bemühungen werden immer wieder Fälle bekannt, die die UN in höchste Verlegenheit bringen. Das Video etwa, das einen weißen Landrover mit UN-Aufschrift auf einer Hauptstraße in Tel Aviv zeigt. Auf dem Rücksitz hat ein Mann augenscheinlich Sex, womöglich mit einer Prostituierten. Dujarric kündigte eine Untersuchung an. Doch dass jemand so offenkundig keinen Respekt für das von den UN verhängte Verbot zeigt, belegt, dass der Kampf gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch noch längst nicht bei allen in den Köpfen verankert ist.
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